Echtzeit-Führungsdraht für chirurgische Behandlung von Schlaganfällen

Das EPFL-Spin-off Artiria hat einen Draht mit lenkbarer Spitze entwickelt, der es Neurochirurgen erleichtert, durch das dichte Netz der Hirnarterien zu navigieren und zur Quelle von Schlaganfällen zu gelangen. Das System wurde soeben von der US Food and Drug Administration (FDA) zugelassen.
© 2023 Alain Herzog

Unser Gehirn verfügt über ein kompliziertes Netz von Arterien, die das Blut auf verschlungenen Pfaden durch das Organ leiten. Für Neurochirurginnen  und -chirurgen kann es schwierig sein, diesen Pfaden mit einem Draht zu folgen – der nur einen Drittel Millimeter Durchmesser hat und durch die Oberschenkelarterie in den Körper gelangt – um ein verstopftes Blutgefäss zu erreichen. Wenn sie beispielsweise den Draht in eine andere Richtung lenken wollen, müssen sie das Instrument oft herausziehen und dann wieder einsetzen, was die Operationszeit verlängert und das Risiko von Komplikationen erhöht. Mit dem neuen von Artiria entwickelten Draht soll sich das ändern. Seine Spitze kann durch Drücken eines Knopfes am Griff gesteuert werden, und zwar über ein Gerät, das ausschliesslich mit mechanischen Kräften arbeitet. Artiria hat soeben die FDA-Zulassung für die Erprobung und Vermarktung seines Systems in den USA erhalten.

Die Zahlen über Schlaganfälle sind erschreckend. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation ist der Schlaganfall weltweit die häufigste Ursache für Behinderungen und die zweithäufigste Todesursache. Jeder vierte Mensch über 25 Jahre muss damit rechnen, im Laufe seines Lebens einen Schlaganfall zu erleiden. Und wenn ein Schlaganfall auftritt, ist Zeit das A und O – eine schnelle Behandlung kann die Prognose der Patientin oder des Patienten erheblich verbessern. «80 % der Schlaganfälle werden durch ein gerissenes Aneurysma verursacht», sagt Guillaume Petit-Pierre, Mitbegründer und CEO von Artiria. In Kombination mit medikamentösen Behandlungen zur Auflösung des Gerinnsels ermöglicht der chirurgische Eingriff, der durch die Echtzeit-Visualisierung der Instrumente durch Röntgenstrahlen erleichtert wird, die mechanische Entfernung des Gerinnsels. Der Draht dient als Führung, damit die anderen für die Operation benötigten Instrumente eingeführt werden können. Bevor sie ihr Unternehmen gründeten, sprachen Petit-Pierre und Marc Boers – der andere Artiria-Mitbegründer – mit mehreren Neurochirurginnen und -chirurgen und schauten ihnen mehrmals bei Operationen zu, um ein gründliches Verständnis der von ihnen verwendeten Techniken zu erlangen. Ziel der Gründung war es, ein Gerät zu entwickeln, das sich nahtlos in die bestehenden Verfahren einfügt: «Wir konnten die FDA-Zulassung so schnell erhalten, weil unser Draht den bestehenden Verfahren in vielerlei Hinsicht ähnelt», sagt Petit-Pierre.

«Diese Mikroschnitte, die nur einige zehn Mikrometer gross sind, werden aus einer superplastischen Legierung hergestellt, die die notwendige Flexibilität der Drahtspitze gewährleistet und gleichzeitig Verletzungen der Arteriolen des Gehirns vermeidet.»      Guillaume Petit-Pierre

Nützlich auch für andere Arten von Operationen nach einem Schlaganfall

Petit-Pierre und Boers testeten ihr System an 3D-gedruckten, durchsichtigen Silikonmodellen von Hirnarterien und stellten fest, dass es keine großen Unterschiede für Neurochirurginnen mit sich brachte. Es hat einfach einen zusätzlichen Knopf am Griff, den Neurochirurgen drücken können, wenn sie die Spitze biegen wollen. Ein winziger Zugdraht überträgt die (geringe) mechanische Kraft, die durch das Drücken des Knopfes entsteht, über die gesamte Struktur des Instruments bis hin zu seiner 2 Zentimeter langen, biegsamen Spitze. Die Spitze ist auf der Seite, die mit dem Zugdraht verbunden ist, verstärkt, und die andere Seite ist so konzipiert, dass sie der Bewegung leicht folgen kann. Für das menschliche Auge mag das System einfach erscheinen, aber die Herstellung der mikroskopisch kleinen Teile war eine beachtliche technische Leistung: «Diese Mikroschnitte, die nur wenige Dutzend Mikrometer gross sind, bestehen aus einer superplastischen Legierung, die die notwendige Flexibilität der Drahtspitze gewährleistet und gleichzeitig eine Verletzung der Arteriolen des Gehirns verhindert. Die technologische Meisterleistung besteht auch darin, ein röntgendichtes Element auf kleinstem Raum zu integrieren, das es ermöglicht, die Spitze des Instruments bei der Röntgennavigation sichtbar zu machen», erklärt Guillaume Petit-Pierre. Um eine einwandfreie Produktreinheit zu gewährleisten, wurden die ersten Versionen dieses Systems im Reinraum der EPFL montiert.

Guillaume Petit-Pierre und Marc Boers, Gründer von Artiria © 2023 EPFL

Die beiden Gründer erforschen auch andere Anwendungsmöglichkeiten für die Technologie, die aus dem Mikrosystemlabor 4 (LMIS4) der EPFL hervorgegangen ist: «Wir haben zum Beispiel mit dem Wyss-Zentrum in Genf zusammengearbeitet, um herauszufinden, ob unser Draht zur Linderung von Krämpfen eingesetzt werden kann, die bei hämorrhagischen Störungen beobachtet werden», sagt Petit-Pierre. In diesem Fall könnte der Draht mit Hilfe flexibler Dünnfilmelektroden gezielt auf eine bestimmte Arterie gerichtet werden: «Derzeit gibt es keine wirksame Möglichkeit, zerebrale Vasospasmen zu behandeln, obwohl sie bekanntermassen eine der Hauptursachen für Behinderungen und Todesfälle nach durch Aneurysmen ausgelösten, Schlaganfällen sind.»

Petit-Pierre und Boers sind seit langem befreundet und beschlossen vor etwa zehn Jahren während eines Skiausflugs, ein Start-up zu gründen. Zu dieser Zeit arbeitete Petit-Pierre in der Medizintechnikbranche und Boers war bereits an anderen Start-ups beteiligt. Petit-Pierre promovierte am LMIS4 – unter der Leitung von Philippe Renaud, der kürzlich emeritiert wurde – und die Atmosphäre dort überzeugte ihn davon, sich als Unternehmer zu versuchen. Aus dem Labor von Prof. Renaud sind etwa 25 Unternehmen hervorgegangen, es gab also viele Vorbilder, von denen er lernen konnte. Die Kernelemente von Artirias System stammen aus Petit-Pierres Doktorarbeit am LMIS4. Zusammen mit Boers meldete er ein Patent an und gründete 2019 das Unternehmen.

Artiria wurde im Rahmen des European Innovation Council Accelerator Program mit 2,7 Millionen Franken gefördert – obwohl die Finanzierung eigentlich von der Schweizer Regierung (SEFRI) kam, da die Schweiz kein Rahmenabkommen mit der EU mehr hat – und hat 4,1 Millionen Franken von Investoren erhalten. Das Medtech-Unternehmen gehört zu den 100 besten Start-ups der Schweiz. Die beiden Gründer planen, in den kommenden Monaten eine grössere Finanzierungsrunde zu lancieren, um das siebenköpfige Team zu erweitern und die klinische Anwendung des Produkts zu validieren.

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