«Es könnten noch mehr Krebskranke von der Protonentherapie profitieren»
Das kürzlich auch auf Deutsch erschienene Buch «Mit Physik gegen Krebs» schildert, wie das Paul Scherrer Institut PSI eine bahnbrechende Technik zur Behandlung von Tumoren entwickelte: die Protonentherapie. Dem Pioniergeist und der Beharrlichkeit etlicher Forschender am PSI ist es zu verdanken, dass uns heute diese wegweisende Bestrahlungsmethode zur Verfügung steht. Sie rettet jedes Jahr zahlreichen Kindern und Erwachsenen mit schwer zu behandelnden Tumoren das Leben. Aber es könnten noch mehr Menschen sein, sagt Damien Weber, Chefarzt und Leiter des Protonentherapiezentrums am PSI im Interview.
Professor Weber, was macht die Protonentherapie so bahnbrechend, dass Sie sogar ein Buch über deren Entwicklung am PSI geschrieben haben?
Damien Weber: Genau wie Röntgenstrahlen, die bei der klassischen Strahlentherapie im Spital zum Einsatz kommen, zerstört Protonenstrahlung die Erbsubstanz in Krebszellen, sodass diese absterben. Protonen aber sind Teilchen und geben bei der Bestrahlung den grössten Teil ihrer Energie in nur einem schmalen Bereich im Körper ab, sprich im Tumor selber. Dort bleiben sie quasi stecken. Dadurch lässt sich eine höhere Strahlendosis in den Tumor verabreichen − gleichzeitig wird das gesunde Gewebe, das hinter dem Tumor liegt, geschont.
Allerdings muss sich bei einer Bestrahlung der Protonenstrahl sehr präzise steuern lassen, und dafür ist einiges an Technik nötig, und entsprechend ein paar Jahrzehnte Entwicklungsarbeit. Wir mussten schliesslich garantieren, dass die Methode hundertprozentig sicher für die Patientinnen und Patienten ist.
Welchen Vorteil hat die Protonentherapie für die Patientinnen und Patienten?
Werden Krebskranke mit Protonen statt mit Röntgenstrahlen bestrahlt, haben sie ein geringeres Risiko, bestimmte Nebenwirkungen zu erfahren, die oft mit einer Bestrahlung einhergehen. Das gilt vor allem bei Tumoren, die neben empfindlichen Geweben oder Organen liegen, etwa bei Hirntumoren, HNO-Tumoren, Tumoren im Kopf- und Nackenbereich, an der Schädelbasis oder nahe der Wirbelsäule.
Bei HNO-Tumoren beispielsweise kann es bei der Bestrahlung der Mundhöhle und der Rachenschleimhaut mit Röntgenstrahlen zu dauerhaften Schäden der Schluckmuskulatur kommen, sodass der Patient sich manchmal nicht mehr auf normalem Weg ernähren kann.
Je nach Krebserkrankung können unter einer klassischen Bestrahlung auch Schäden an den Speicheldrüsen oder an den Hirnanhangdrüsen entstehen. Und natürlich profitieren vor allem krebskranke Kinder von einer Protonentherapie.
Warum Kinder?
Bei Kindern ist das Risiko höher, dass eine Bestrahlung gesundes Gewebe schädigt und sich dadurch Langzeitschäden entwickeln, da sie im Vergleich zu Erwachsenen eine höhere Strahlenempfindlichkeit aufweisen. Denn wenn gesunde Zellen bei der Strahlentherapie vorgeschädigt worden sind, weil sie sich nahe am Tumor befanden, können die Zellen bei jeder Zellteilung diese Schäden an immer mehr Zellen weitergeben. Ausserdem ist bei einem kleinen Körper schlichtweg auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich in der Nähe des Tumors eine kritische Struktur wie die Wirbelsäule oder das Gehirn befindet, sehr viel höher als bei dem grösseren Körper eines Erwachsenen. Daher ist es gerade bei krebskranken Kindern von Vorteil, eine so präzise Bestrahlungsmethode wie die Protonentherapie einzusetzen.
Was sind die grössten Erfolge, die dazu geführt haben, dass die Protonentherapie sich als klinische Behandlungsmethode in der Schweiz etablieren konnte?
Der erste Höhepunkt war im Jahr 1984, als am PSI ein Patient mit Protonen gegen eine seltene Form des Augentumors bestrahlt wurde − das erste Mal in ganz Europa. 1996 haben wir dann den ersten Patienten mit der von uns entwickelten Spot-Scanning-Technik bestrahlt, eine Methode, die tief liegende Tumore mit einem bleistiftdünnen Protonenstrahl abrastert – als würde man ihn quasi ausradieren. Das war damals sogar eine weltweite Premiere!
Ein bedeutendes Jahr für die Protonentherapie war auch 2001: Seitdem übernehmen die Krankenversicherungen in der Schweiz bei bestimmten Krebserkrankungen die Kosten. 2004 wurde bei uns das erste Kleinkind unter Anästhesie bestrahlt; dank Kooperation mit dem Kinderspital Zürich behandeln wir inzwischen etwa 60 bis 70 Kinder und Jugendliche jedes Jahr.
Und noch ein Jahr war wichtig: 2007. Da bekam das Protonentherapiezentrum seinen eigenen Beschleuniger namens COMET. Zuvor wurden die Protonen für die Bestrahlung in einem Beschleuniger erzeugt, den das PSI hauptsächlich für Physikexperimente nutzte und auch heute noch nutzt. Und dieser wird für mehrere Monate im Jahr zu Wartungszwecken abgestellt. Mit dem COMET bestrahlen wir ganzjährig von Montag bis Freitag Patientinnen und Patienten.
Dann sind wir doch am Ziel angelangt, oder?
Nein, leider nicht. Es könnten noch mehr Krebskranke von der Protonentherapie profitieren, als es derzeit der Fall ist − nicht nur weltweit, sondern auch bei uns in der Schweiz. Das Problem ist, dass das volle Potenzial der Protonentherapie noch nicht hinreichend in allen Fachkreisen bekannt ist. Daher erfahren viele Krebskranke, die für eine Protonentherapie infrage kämen, gar nicht, dass diese Möglichkeit besteht.
Wir behandeln derzeit mehr als 170 Patientinnen und Patienten mit tief liegenden Tumoren im Jahr, hätten aber eigentlich Kapazität für mehr. Einige Krebskranke, die von einer Protonentherapie profitieren könnten, entscheiden sich am Ende sogar für eine klassische Bestrahlung im Spital an ihrem Wohnort.
Was hält die Menschen davon ab, eine Protonentherapie in Anspruch zu nehmen, wenn die Behandlung bei vielen Krebserkrankungen sogar von den Krankenversicherungen übernommen wird?
Wir sind das einzige Zentrum für Protonentherapie in der Schweiz, und der Weg nach Villigen ist gerade für Personen aus der Romandie, dem Tessin oder der Ostschweiz lang und mühsam. Die Therapie dauert meist mehrere Wochen; manche Patientinnen und Patienten mieten für diesen Zeitraum ein Zimmer in der Nähe des Protonenzentrums. Leider übernimmt die Krankenkasse die Unterkunftskosten bisher nicht; und das hält einige Personen vermutlich von einer Behandlung bei uns ab. Im Grunde wäre es an der Zeit, weitere Protonentherapiezentren in der Schweiz zu errichten. Solche Überlegungen sind schon öfter aufgekommen, wurden aber bisher leider nie weiterverfolgt.
Wissen wir denn überhaupt sicher, ob sich der Aufwand einer Protonentherapie lohnt?
Ja, klinische Studien zeigen klar, dass die Protonentherapie im Vergleich zur klassischen Bestrahlung einen Vorteil bringen kann. Etwa bei HNO-Tumoren, das gilt besonders bei einseitigen Kopf- und Halstumoren sowie bei fortgeschrittenen Tumoren im Nasen-Rachen-Bereich oder an den Nasennebenhöhlen. Ein weiteres Beispiel sind Hirn- und Wirbelsäulentumore. Aber es stimmt: Harte Daten zu vielen anderen Krebsarten fehlen noch, da klinische Studien nun mal teuer und vor allem langwierig sind. Daher kommen die Ergebnisse erst allmählich nach und nach.
Und ohne klinische Studien geht es nicht?
Doch, Kolleginnen und Kollegen am University Medical Center Groningen in den Niederlanden haben jetzt einen Ansatz entwickelt, um auch ohne klinische Studien die Protonentherapie mit der klassischen Bestrahlung zu vergleichen. Sie simulieren dafür im Computer, welche und wie viele Nebenwirkungen nach einer Behandlung mit der einen und der anderen Methode zu erwarten sind, etwa wie stark die Schluckmuskulatur geschädigt wird. Dann verfolgen sie die tatsächlichen Nebenwirkungen von Patientinnen und Patienten, die in der Realität auf die eine oder andere Weise bestrahlt wurden, und passen ihr Modell immer weiter an.
Was sich bisher zeigte: Protonentherapie scheint bei Tumoren im Kopf- und Nackenbereich sogar noch weniger Nebenwirkungen zu haben als ursprünglich erwartet. Es sieht also so aus, als ob sich der Aufwand für eine Protonentherapie tatsächlich noch mehr lohnt, als wir bisher dachten. Das kann für Genesene auf Dauer einen grossen Unterschied in der Lebensqualität ausmachen.
Derzeit scheint die Protonentherapie noch eine Nischenanwendung zu sein, die nur bei wenigen Tumorarten zum Einsatz kommt. Wird sich das in Zukunft ändern?
Wir arbeiten daran. In Zusammenarbeit mit dem Radio-Onkologie-Zentrum des Kantonsspitals Aarau haben wir gerade Patientinnen und Patienten für eine internationale Lungenkrebsstudie ausgewählt. Mit den Ergebnissen, ob eine Protonentherapie die Lebenszeit bei fortgeschrittenem Lungenkrebs signifikant verlängert gegenüber herkömmlicher Bestrahlung, rechnen wir in etwa drei Jahren.
Derzeit untersuchen wir, ob die Protonentherapie bei der Behandlung von Speiseröhrenkrebs Vorteile bringt. An dieser klinischen Studie nehmen wir – im Rahmen einer europäischen Kollaboration − zusammen mit der Klinik für Radio-Onkologie am Universitätsspital Zürich teil. Aber auch hier ist es schwierig, Studienteilnehmende zu finden, auch aus den oben besprochenen Gründen. Wir suchen kontinuierlich. Erkrankte, die denken, für die Studie infrage zu kommen, können sich gerne bei uns melden.