Wenn der Orkan Platz für Vielfalt schafft: Neue Chancen für gefährdete Insekten
Auch wenn den Forstleuten das Herz blutet: Für die Insektenvielfalt ist ein Orkan, der durch den Wald fegt, ein Segen. Umgestürzte Bäume und die nachfolgende Vegetation bieten reichlich Nahrung und Lebensraum für eine Vielzahl an Insekten und andere Wirbellose, weshalb deren Vielfalt in den ersten Jahren nach einem Sturm erheblich zunimmt. Dies belegt eine gross angelegte, 20 Jahre dauernde Studie der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL.
Vor den Winterstürmen Vivian (1990) und Lothar (1999) räumten Forstleute Sturmholz meist aus dem Wald - etwa, um das Risiko für Borkenkäferschäden einzudämmen, das Holz zu ernten oder um Ordnung wieder herzustellen. Das Forschungsteam wollte herausfinden, ob es für die Insekten einen Unterschied machte, ob das Sturmholz nach einem Orkan liegenblieb oder nicht. Also stellte es auf insgesamt 16 durch Vivian und Lothar entstandenen Sturmflächen und intakten Vergleichswäldern unterschiedliche Insektenfallen auf (siehe Box). Auf einem Teil der Sturmflächen waren die umgestürzten Bäume weggeräumt worden, auf einem anderen blieben sie liegen. Insgesamt sammelten sie so mehr als 500'000 Individuen von über 1600 Arthropoden-Arten, also Insekten, Spinnen und anderen Gliederfüssern.
Beat Wermelinger, Hauptautor der im Fachjournal Journal of Applied Ecology veröffentlichten Studie, erzählt: «Die Datenbeschaffung war ein riesiger Aufwand und führte zu einem weltweit einzigartigen Datensatz. Noch nie zuvor wurden nach einer ökologischen Störung 20 Jahre lang in regelmässigen Abständen Daten über Gliederfüsser erhoben. Bei jedem Wetter – ob Hitze, Schneefall oder Regen – war jede Woche ein Feldteam auf den Versuchsflächen unterwegs, um die Insektenfallen zu leeren. Im Anschluss sortierten sie die Fänge im Labor und Insektenspezialistinnen und Spezialisten bestimmten sie.»
Mehr gefährdete Arten auf nicht geräumten Flächen
Was die Forschenden nicht erwartet hatten: Die Anzahl Arten war auf geräumten wie auch auf belassenen Sturmflächen vergleichbar. «Das hat uns erstaunt», sagt Wermelinger.
Doch die Artenzusammensetzung, also welche Arten auf welchen Versuchsflächen vorkamen, wies Unterschiede auf. Gewisse totholzbewohnende Spezialisten, kamen fast nur auf belassenen Flächen vor. Jede zehnte aller gesammelten Arten fand sich nur auf geräumten Sturmflächen und ein Fünftel kam ausschliesslich auf belassenen Sturmflächen vor. Darunter waren auch der gefährdete Grossen Zangenbock, Rhagium sycophanta, oder die seltene Mauerbiene, Hoplitis villosa.
Auch 20 Jahre nach den Stürmen fand das Forschungsteam deutlich mehr gefährdete Insekten auf nicht geräumten Sturmflächen als auf geräumten. Nach Stürmen liegen gelassenes Totholz ist, so ein Fazit der Studie, eine unverzichtbare Ressource für viele Insektenarten, besonders für Holzbewohner.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass man Sturmflächen gar nicht mehr räumen sollte. In Fichtenwäldern, die beispielsweise im Gebirge vor Naturgefahren schützen sollen, ist immer die Gefahr von Borkenkäfer-Massenvermehrungen zu berücksichtigen. In Laub- oder Mischwäldern allerdings, empfehlen die Forschenden ein Mosaik aus geräumten und belassenen Sturmholzflächen sowie intakten Waldflächen, da dies die Artenvielfalt am besten unterstützt.
Insektenfallentypen
Fensterfallen: sind Holzrahmen mit einer Glasscheibe, von der fliegende Insekten abprallen und in den darunterliegenden Trog mit Wasser fallen.
Gelbfallen: sind mit Wasser gefüllte gelbe Plastikeimer, welche mit ihrer Farbe bestäubende Insekten anziehen.
Bodenfallen: sind in den Boden eingegrabene Trichter mit Fangflaschen, welche flugunfähige Insekten und andere Gliedertiere wie z.B. Spinnen oder Asseln einsammeln.
Kombifallen: sind eine Kombination aus Fensterfallen und Gelbfallen, welche fliegende und Blüten bestäubende Insekten fangen.