Eine komplette Schnittstelle Gehirn – Maschine auf einem Chip

Forschende der EPFL haben eine miniaturisierte Gehirn-Maschine-Schnittstelle der nächsten Generation entwickelt, die eine direkte Gehirn-zu-Text-Kommunikation auf winzigen Siliziumchips ermöglicht.
© 2024 EPFL / Lundi13 - CC-BY-SA 4.0

Gehirn-Maschine-Schnittstellen (Brain-machine interfaces, BMI) haben sich als vielversprechende Lösung für die Wiederherstellung von Kommunikation und Kontrolle bei Personen mit schweren motorischen Beeinträchtigungen erwiesen. Bisher waren diese Systeme sperrig, stromintensiv und in ihren praktischen Einsatzmöglichkeiten begrenzt. Forschende der EPFL haben das erste hochleistungsfähige, miniaturisierte Brain-Machine Interface (MiBMI) entwickelt, das eine extrem kleine, stromsparende, hochpräzise und vielseitige Lösung bietet. Das MiBMI, das in der neuesten Ausgabe des IEEE Journal of Solid-State Circuits veröffentlicht und auf der International Solid-State Circuits Conference vorgestellt wurde, verbessert nicht nur die Effizienz und Skalierbarkeit von Gehirn-Maschine-Schnittstellen, sondern ebnet auch den Weg für praktische, vollständig implantierbare Geräte. Diese Technologie hat das Potenzial, die Lebensqualität von Patienten mit Krankheiten wie amyotropher Lateralsklerose (ALS) und Rückenmarksverletzungen erheblich zu verbessern.

«Dieser Fortschritt bringt uns näher an praktische, implantierbare Lösungen heran.»      Mahsa Shoaran

Die geringe Grösse und der niedrige Stromverbrauch des MiBMI sind wichtige Merkmale, die das System für implantierbare Anwendungen geeignet machen. Seine minimale Invasivität gewährleistet Sicherheit und Zweckmäßigkeit für den Einsatz in klinischen und realen Umgebungen. Ausserdem handelt es sich um ein vollständig integriertes System, d. h. die Aufzeichnung und Verarbeitung erfolgen auf zwei extrem kleinen Chips mit einer Gesamtfläche von 8 mm2. Es handelt sich um das jüngste Mitglied einer neuen Klasse von BMI-Geräten mit geringem Stromverbrauch, die im Integrated Neurotechnologies Laboratory (INL) von Mahsa Shoaran an den EPFL-Instituten IEM und Neuro X entwickelt wurden.

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«MiBMI ermöglicht es uns, komplizierte neuronale Aktivitäten mit hoher Genauigkeit und geringem Stromverbrauch in lesbaren Text umzuwandeln. Dieser Fortschritt bringt uns näher an praktische, implantierbare Lösungen, die die Kommunikationsfähigkeit von Menschen mit schweren motorischen Beeinträchtigungen erheblich verbessern können», sagt Shoaran.

Bei der Umwandlung von Gehirn in Text werden neuronale Signale entschlüsselt, die erzeugt werden, wenn sich eine Person vorstellt, Buchstaben oder Wörter zu schreiben. Bei diesem Prozess zeichnen im Gehirn implantierte Elektroden die neuronale Aktivität auf, die mit den motorischen Handlungen des Schreibens verbunden ist. Der MiBMI-Chipsatz verarbeitet diese Signale dann in Echtzeit und übersetzt die vom Gehirn beabsichtigten Handbewegungen in entsprechenden digitalen Text. Diese Technologie ermöglicht es Menschen, insbesondere solchen mit Locked-in-Syndrom und anderen schweren motorischen Beeinträchtigungen, zu kommunizieren, indem sie einfach an das Schreiben denken, wobei die Schnittstelle ihre Gedanken in lesbaren Text auf einem Bildschirm umsetzt.

«Der Chip wandelt handschriftliche Aktivitäten mit einer beeindruckenden Genauigkeit von 91 % in Text um.»      Mohammed Ali Shaeri

«Der Chip wurde zwar noch nicht in eine funktionierende BMI integriert, hat aber bereits Daten aus früheren Live-Aufnahmen, z. B. aus dem Shenoy-Labor in Stanford, verarbeitet und dabei die Handschrift mit einer beeindruckenden Genauigkeit von 91 % in Text umgewandelt», sagt der Hauptautor Mohammed Ali Shaeri. Der Chip kann derzeit bis zu 31 verschiedene Zeichen dekodieren, eine Leistung, die von keinem anderen integrierten System erreicht wird. «Wir sind zuversichtlich, dass wir bis zu 100 Zeichen dekodieren können, aber ein Handschrift-Datensatz mit mehr Zeichen ist noch nicht verfügbar», fügt Shaeri hinzu.

Derzeitige BMI zeichnen die Daten von im Gehirn implantierten Elektroden auf und senden diese Signale dann an einen separaten Computer, der die Dekodierung vornimmt. Die MiBMI-Chips zeichnen die Daten nicht nur auf, sondern verarbeiten die Informationen auch in Echtzeit, indem sie ein neuronales Aufzeichnungssystem mit 192 Kanälen und einen neuronalen Decoder mit 512 Kanälen integrieren. Dieser neurotechnologische Durchbruch ist ein Meisterwerk der extremen Miniaturisierung, das Fachwissen in integrierten Schaltkreisen, neuronaler Technik und künstlicher Intelligenz vereint. Diese Innovation ist in der aufkommenden Ära der Neurotech-Startups im BMI-Bereich, wo Integration und Miniaturisierung im Mittelpunkt stehen, besonders spannend. Das MiBMI der EPFL bietet vielversprechende Einblicke und Potenzial für die Zukunft dieses Bereichs.

«Unser Ziel ist es, eine vielseitige BMI zu entwickeln, die auf verschiedene neurologische Erkrankungen zugeschnitten werden kann und den Patientinnen und Patienten ein breiteres Spektrum an Lösungen bietet.»      Mahsa Shoaran

Um die riesige Menge an Informationen, die von den Elektroden auf der miniaturisierten BMI erfasst wurden, verarbeiten zu können, mussten die Forschenden einen völlig anderen Ansatz für die Datenanalyse wählen. Sie entdeckten, dass die Gehirnaktivität für jeden Buchstaben, wenn sich der Patient vorstellt, ihn mit der Hand zu schreiben, sehr spezifische Marker enthält, die die Forschenden als distinktive neuronale Codes (DNCs) bezeichnet haben. Anstatt Tausende von Bytes an Daten für jeden Buchstaben zu verarbeiten, muss der Mikrochip nur die DNCs verarbeiten, die etwa hundert Bytes gross sind. Das macht das System schnell, genau und stromsparend. Dieser Durchbruch ermöglicht auch eine kürzere Einarbeitungszeit, was das Erlernen des Umgangs mit der BMI einfacher und leichter zugänglich macht.

Die Zusammenarbeit mit anderen Teams der EPFL-Institute Neuro-X und IEM, z. B. mit den Labors von Grégoire Courtine, Silvestro Micera, Stéphanie Lacour und David Atienza, verspricht die nächste Generation von integrierten BMI-Systemen. Shoaran, Shaeri und ihr Team erforschen verschiedene Anwendungen für das MiBMI-System, die über die Handschrifterkennung hinausgehen: «Wir arbeiten mit anderen Forschungsgruppen zusammen, um das System in verschiedenen Kontexten zu testen, z. B. bei der Sprachdekodierung und der Bewegungssteuerung. Unser Ziel ist es, ein vielseitiges BMI zu entwickeln, das auf verschiedene neurologische Störungen zugeschnitten werden kann und den Patienten ein breiteres Spektrum an Lösungen bietet», sagt Shoaran.