Wenn Forscher ihre Kräfte im Kampf gegen Krebs bündeln
Es wird oft gesagt, dass Wissenschaftlerinnen und Ärzte einen «Krieg» gegen den Krebs führen. Diese Art von kriegerischem Gerede bestimmt oft die Diskussionen über eine Krankheit, an der mehr als 40 000 Menschen erkranken und die in der Schweiz jedes Jahr fast 17 000 Todesopfer fordert. Die Sterblichkeitsraten sind in den letzten drei Jahrzehnten deutlich gesunken, was darauf hindeutet, dass Schlachen gewonnen werden. Dennoch ist Krebs in seinen verschiedenen Formen immer noch eine der häufigsten Todesursachen weltweit. Pierre-Yves Dietrich, ehemaliger Leiter der Onkologie am Universitätsspital Genf (HUG) im Ruhestand, warnte 2021 davor, dass der Kampf gegen den Krebs eine «kollektive Anstrengung» von Fachleuten aus allen Bereichen der Medizin und der Biowissenschaften erfordere: «Der Kampf gegen den Krebs ist eine enorme Herausforderung, die Kompetenzen und Fachwissen erfordert, die über die manchmal starren Grenzen von Disziplinen, Einrichtungen, Instituten und Kantonen hinausgehen.»
Die Notwendigkeit eines neuen Ansatzes war ein Grund für die Eröffnung des Swiss Cancer Center Léman (SCCL). Es ist ein Zusammenschluss von Institutionen in der Genferseeregion: der Universität Genf (UNIGE), der Universität Lausanne (UNIL), der EPFL, des Universitätsspitals Lausanne (CHUV) und des Universitätsspitals Genf (HUG). Es ist ein Ort, an dem Grundlagen- und angewandte Forschende, Klinikfachleute und medizinisches Personal gemeinsam arbeiten, Entdeckungen austauschen und Wissenschaft und Medizin zum Wohle der Patientinnen und Patienten vorantreiben, wobei der Schwerpunkt auf vielversprechenden Immuntherapien liegt. Wenn es um die Behandlung von Krebs geht, hat kein einzelnes Labor oder Forschungsgebiet alle Antworten», sagt Elisa Oricchio, Leiterin des Schweizerischen Instituts für experimentelle Krebsforschung (ISREC) der EPFL, «die Bekämpfung der Krankheit erfordert zwangsläufig eine interdisziplinäre Anstrengung. Das ist es, was die Genferseeregion so einzigartig macht: Sie beherbergt zukunftsorientierte Ingenieurinnen, Mediziner mit einem tiefen Einblick in klinische Fragen und Biologinnen, die verstehen, wie Tumore wachsen und sich verhalten. Nirgendwo sonst findet man Menschen mit diesen drei Kompetenzen an einem Ort, weshalb unsere Innovationsfähigkeit einzigartig ist», so Oricchio, die im Oktober 2022 gemeinsam mit Olivier Michielin und Georges Coukos, den Leitern der Onkologie am HUG bzw. am UNIL-CHUV, in den Vorstand des SCCL berufen wurde.
Das Agora Centre für translationale Krebsforschung in Lausanne. ISREC Foundation
Stärke in Zahlen
Um diese Zusammenarbeit zu konkretisieren, wurde ein Gebäude, das zeitgleich mit der Gründung des SCCL errichtet wurde, genutzt: das AGORA Translational Cancer Research Center, das 2018 von der ISREC-Stiftung eröffnet wurde und sich in günstiger Lage gegenüber dem CHUV in Lausanne befindet. Das hochmoderne fünfstöckige Gebäude ermöglicht das Zusammentreffen von Fachgebieten und die Fusion von Ideen. Wissenschaftler und Ärztinnen in weissen Laborkitteln treffen sich in der Cafeteria, während an den Bürotüren Partnerschaften mit der UNIL, der UNIGE, der EPFL und anderen Einrichtungen zu finden sind – ein Beweis für die einzigartige Mitgliederstruktur des Zentrums und sein breites Spektrum an Fachwissen. «Das AGORA-Gebäude wurde mit Blick auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit konzipiert», sagt Denis Migliorini, Leiter der Neuroonkologie am HUG: «Auf jeder Etage gibt es Besprechungsbereiche, die Labors sind offen, die Arbeitsplätze stehen nahe beieinander.» Migliorini teilt seine Zeit zwischen der Behandlung von Hirntumorpatienten im Genfer Krankenhaus und der Forschung in seinem SCCL-Labor auf, wo seine Gruppe zelluläre Therapien entwickelt, um die Wirksamkeit der Immuntherapie zu verbessern. Im AGORA-Gebäude herrscht immer reges Treiben, und im Hörsaal finden regelmässig Sitzungen, Vorträge und Fortschrittsberichte von Forschungsgruppen der Mitgliedsinstitute des Zentrums statt.
Professor Denis Migliorini in seinem Agora-Labor, Februar 2023. © Rémi Carlier, EPFL
Was das SCCL so besonders macht, ist sein Netzwerk – physisch und virtuell. Einmal im Jahr findet eine Konferenz statt, an der Medizinstudierende, Doktorierende, Praktikanten und Professorinnen aus Genf und Lausanne teilnehmen, um ihre Arbeit vorzustellen, aktuelle Fortschritte zu diskutieren und neue Kooperationsbeziehungen zu knüpfen. Bei der letzten Veranstaltung, die Ende 2022 stattfand, lernte Migliorini Nicola Vannini kennen, der die Forschung in der Abteilung für Onkologie der UNIL leitet. «Wir hatten Glück, einander zu treffen», sagt Vannini, «meine Arbeit konzentriert sich auf die Alterung von Stamm- und Immunzellen. Ich wollte untersuchen, wie sich dieser Alterungsprozess auf CAR-T-Zell-Therapien auswirken könnte. Ich bin kein Experte für diese Immuntherapiemethode, aber Denis arbeitet in seinem Labor an diesem Thema. Kurz gesagt, er wird untersuchen, wie man die Therapie auf Tumore ausrichten kann, und ich werde erforschen, wie man die von ihm verwendeten Zellen anpassungsfähiger machen kann.»
Dies ist nur eine von vielen fruchtbaren Kooperationsbeziehungen, die aus dem SCCL hervorgegangen sind, wie die zahlreichen gemeinsamen Veröffentlichungen seiner Mitglieder zeigen. Zusammen mit den EPFL-Professoren Andrea Ablasser und Bruno Correia erhielt Migliorini vor kurzem ein Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds (SNF ) zur Unterstützung von Forschungsarbeiten zur Verbesserung der Wirksamkeit der CAR-T-Zelltherapie, einer Methode, die auf die angeborene Immunität von Tumoren abzielt.
Nutzung des kollaborativen Potenzials
Das neue SCCL-Leitungsteam, das die institutsübergreifenden Initiativen betreut, will das Potenzial der Zusammenarbeit noch besser ausschöpfen: «Wir prüfen derzeit, wie wir die klinischen Beziehungen zwischen der EPFL, der UNIGE und dem CHUV stärken können», sagt Oricchio, «unsere Idee ist es, alle in den Krankenhäusern und Labors erzeugten Daten zu konsolidieren und zu harmonisieren und sie als Dienstleistung für Wissenschaftler und Kliniker zur Verfügung zu stellen. In unserem Labor generieren wir zum Beispiel eine Menge präklinischer Daten. Klinikfachleute könnten diese Informationen nutzen, um zu entscheiden, welche Therapie für bestimmte Patientinnen in Frage kommt, und umgekehrt. Wenn man heute über klinische Daten spricht, ist das kompliziert, denn es gibt immer noch Grenzen, die mit rechtlichen Beschränkungen verbunden sind. Der SCCL-Rahmen kann den Informationsfluss erleichtern.»
Nicolas Vannini in seinem Labor, Februar 2023. © Rémi Carlier, EPFL
Die Idee, Ressourcen und Fachwissen institutsübergreifend zu bündeln, hat sich in den Vereinigten Staaten bereits bewährt. Die Forschungsgruppen in Genf und Lausanne haben beschlossen, diesem Beispiel zu folgen: «Wenn Klinikfachleute und Grundlagenforschende enger zusammenarbeiten, kann das nur gut sein – für die Patientinnen und für die Entwicklung neuer Therapien», sagt Migliorini. Vannini fügt hinzu: «Ich weiss nicht, ob wir den Kampf gegen den Krebs gewinnen werden, denn jeder Tumor ist anders. Aber mit dem Wissen und der Erfahrung, die wir am SCCL haben, sind wir besser gerüstet, um die Krankheit von Patientin zu Patient zu bekämpfen.»