Mit Eisen das Leben von Kleinkindern retten
Viel unterwegs zu sein empfindet Nicole Stoffel nicht als Belastung, sondern als willkommene Abwechslung: «Auf Reisen kann ich sehr gut arbeiten», sagt sie und wirkt dabei völlig entspannt. Gerade erst ist sie für einige Tage von England in die Schweiz zurückgekehrt. Die 31-Jährige forscht als Senior Scientist im Labor für Humanernährung der ETH Zürich, führt aber auch einen grossen Teil ihrer Arbeit an der Universität Oxford durch: «Ich bin dankbar, an diesen zwei Top-Unis arbeiten zu können». Darüber hinaus reist sie mehrmals im Jahr nach Kenia und in weitere Länder wie Thailand, Mexiko oder die Philippinen, in denen sie verschiedene Studien betreut.
Stoffel befasst sich in ihrer Forschung mit den Auswirkungen und der Behandlung von Eisenmangel, insbesondere in Entwicklungsländern. Zusammen mit Forschenden aus der Gruppe von ETH-Professor Michael Zimmermann sowie aus Kenia, Grossbritannien, USA und den Niederlanden konnte sie nachweisen, dass Eisenmangel die Wirkung von Impfungen beeinträchtigt.
Dieser Zusammenhang ist in Entwicklungsländern von grosser Bedeutung: Etwa 40 Prozent der Kinder weltweit leiden an Blutarmut aufgrund von Eisenmangel, oft sind schon Säuglinge betroffen. Denn viele Schwangere haben einen zu niedrigen Eisenstatus, sodass die Eisenspeicher des Babys während der Zeit im Mutterleib nur ungenügend gefüllt werden. Nach der Geburt, braucht das Neugeborene seine ohnehin geringen Vorräte dann innerhalb weniger Monate auf.
Kinderleben retten
Das stellt ein Gesundheitsrisiko dar. Denn Eisenmangel führt unter anderem dazu, dass Impfungen gegen Kinderkrankheiten wie Masern, Diphterie, Keuchhusten und Pneumokokken deutlich schlechter wirken. Das belegen zwei klinische Studien, die Stoffel mit kenianischen Kleinkindern durchgeführt hat. Deren Risiko war um das Zwei- bis Fünffache erhöht, nach einer Impfung keine schützenden Antikörper zu bilden.
Erhalten Kindern hingegen Eisen als Nahrungsergänzung, ist die Impfwirkung deutlich verbessert: Es werden mehr Antikörper gebildet, die zudem potenter sind. Auch wenn wahrscheinlich noch andere Faktoren die Impfeffizienz beeinflussen, ist klar: «Mit einer besseren Eisenversorgung liesse sich das Leben sehr vieler Kinder retten», sagt Stoffel. Denn noch immer sterben weltweit jährlich 1,5 Millionen Kinder an Krankheiten, die durch eine Impfung verhindert werden könnten.
Für ihre Arbeiten hat Nicole Stoffel den Lopez-Loreta-Preis erhalten, der jedes Jahr an exzellente Absolventinnen und Absolventen von vier Hochschulen, darunter die ETH Zürich, verliehen wird. Mit dem Preisgeld von einer Million Euro wird die junge Forscherin über die nächsten vier Jahre mehrere weiterführende Studien realisieren, wiederum in Kenia. Darin will sie den Zusammenhang von Eisenstatus und Impfwirkung auch bei Erwachsenen untersuchen, etwa nach einer Covid-19-Impfung. «Das Thema ist aufgrund der Pandemie, die viele Entwicklungsländer hart getroffen hat, sehr aktuell», erklärt die Pharmazeutin.
Optimale Dosierung
Am meisten am Herzen liegt Stoffel aber die Frage, wie Kleinkindern das für sie so wichtige Eisen auf sichere und effiziente Art verabreicht werden kann. In vielen afrikanischen Ländern erhalten Kinder ein Nahrungsergänzungspulver, das verschiedene Mikronährstoffe und auch Eisen enthält. Die Verabreichung kann jedoch unerwünschte Nebenwirkungen haben: Zuviel freies Eisen im Darm führt dazu, dass schädliche Bakterien überhandnehmen, die Entzündungen und Durchfälle verursachen können.
Ein Mittel dagegen ist, dem Pulver bestimmte Präbiotika hinzuzufügen, sogenannte Galacto-Oligosaccharide (GOS). Diese fördern einerseits die «guten» Darmbakterien und schützen die Kinder so vor Magen-Darm-Erkrankungen, andererseits verbessern sie auch die Eisenaufnahme. Stoffel testet daher verschiedene Dosierungen von Eisen und GOS, um die optimale Zusammensetzung zu finden.
Neben den klinischen Studien, die sie von der ETH aus plant und koordiniert, untersucht die Forscherin den Zusammenhang von Eisen und dem Immunsystem auf molekularer Ebene. «Ich finde es extrem spannend, dass ich in meiner Arbeit beide Bereiche verbinden kann.» Die molekularbiologische Forschung führt sie im Labor von Hal Drakesmith an der Universität Oxford durch.
Mit Hilfe von modernen Zellanalyse-Methoden will sie die Reaktion von verschiedenen Immunzellen in Zellkulturen und im Tiermodell beobachten. Erste Ergebnisse ihrer britischen Kolleginnen und Kollegen haben gezeigt, dass bestimmte Immunzellen eine Virusinfektion nur dann effizient abwehren können, wenn ihnen genügend Eisen zur Verfügung steht.
Durch Zufall in die Forschung
Ursprünglich hatte Nicole Stoffel vor, nach dem Pharmaziestudium in der Apotheke ihrer Eltern zu arbeiten. Dann erfuhr sie durch Zufall, dass das Labor für Humanernährung der ETH jemanden für eine Doktorandenstelle suchte. «Ich kann es mir ja einfach mal anschauen», dachte sie sich. Wider Erwarten merkte sie, dass ihr das Thema gefiel und sie als Pharmazeutin gute Voraussetzungen mitbrachte, um klinische Studien zu betreuen.
Sie nahm die Stelle an, was im Rückblick genau die richtige Entscheidung war: «Ich habe mich einfach in die Wissenschaft verliebt». Heute kann sie sich nichts anderes mehr vorstellen. Besonders gut gefällt ihr, Studien zu planen und auszuwerten, aber auch die Interaktion mit den lokalen Teams in verschiedenen Ländern. «Wir haben das Glück, mit super Leuten zusammenzuarbeiten», sagt Stoffel. Wichtig ist ihr dabei auch der Wissenstransfer, um die Forschung in den Partnerländern nachhaltig zu stärken.
Rückschläge gelassen nehmen
Trotz aller Begeisterung: Nicht immer lief alles so glatt, wie es scheinen mag. Während ihrer Doktorarbeit sollte Stoffel zunächst eine Studie durchführen, in der es um den Eisenstatus von übergewichtigen Schwangeren ging. Doch es fanden sich nicht genügend Probandinnen für die Studie, sodass ihre Dissertation ins Stocken geriet.
Glücklicherweise konnte sie ein anderes Projekt übernehmen, das besser lief. «Man weiss nie, wie es kommt, aber genau das ist ja das Spannende an der Wissenschaft», ist sie überzeugt. Wichtig sei, Rückschläge gelassen zu nehmen und offen zu bleiben für neue Möglichkeiten.
Diese Einstellung zahlte sich aus: 2018 brachte sie ihre Doktorarbeit so erfolgreich zum Abschluss, dass ihr dafür die ETH-Medaille verliehen wurde. In ihrem «Ersatz»-Projekt hatte sie ein neues Schema für die Einnahme von Eisentabletten entwickelt. Sie konnte nachweisen, dass junge Frauen mit Eisenmangel weniger Nebenwirkungen haben und gleichzeitig mehr Eisen aufnehmen, wenn die orale Einnahme nur jeden zweiten Tag erfolgt.
Bis anhin war die Empfehlung gewesen, Eisentabletten täglich zu nehmen. Verschiedene Spitäler und Ärztinnen passten aufgrund der neuen Resultate ihre Verschreibungen an. Die Weltgesundheitsorganisation wartet vor einer Änderung ihrer Empfehlung noch auf die Ergebnisse einer Langzeitstudie, welche eine Doktorandin von Stoffel derzeit durchführt.
Teamwork auf dem Eis
Ausgleich zu ihrer kopflastigen Arbeit findet die Forscherin beim Sport: Ihre Joggingschuhe hat sie immer dabei, ob in Kenia oder England. «Wenn ich an einem neuen Ort bin, erkunde ich die Gegend gerne beim Laufen».
Ausserdem betreibt sie eine Sportart, die in der Schweiz noch weitgehend unbekannt ist: Das Synchron-Eiskunstlaufen, bei dem zwölf bis sechzehn Personen aufeinander abgestimmt Figuren auf dem Eis zeigen. So oft es geht nimmt sie an Trainings an ihrem Wohnort Rapperswil teil. Sie geniesst die Bewegung an der kalten Luft und den schönen Blick auf den Zürisee: «Dann kommen mir immer die besten Ideen».