Neue Karten zeigen unsere emotionale Beziehung zur lokalen Umwelt
«Vernier ist ein merkwürdiger Ort. Man kommt an Öltanks, einem Ikea und einem Flughafen vorbei – und dann trifft man plötzlich Kühe, die Rhône und kleine Boote», so beschreibt ein Anwohner, was er auf seinem täglichen Weg zu Fuss sieht. Er und 18 weitere Anwohnende haben an einer Studie teilgenommen, die vom Atelier de la Conception de l'Espace (ALICE) und der GEOME-Forschungsgruppe des Labors für biologische Geochemie (LGB) – beide gehören zur Fakultät für Architektur, Bau- und Umweltingenieurwesen (ENAC) der EPFL – durchgeführt wurde. Lucía Jalón Oyarzun, Emmanuelle Agustoni, Aurèle Pulfer und Marco Vieira Ruas haben eine frei zugängliche interaktive Karte (nur auf Französisch verfügbar) entwickelt, die affektive Aspekte und geografische Analysen einbezieht.
Luftaufnahme von Vernier. © Google earth
Standardmässige topografische Karten zeigen, wie man von Punkt A nach Punkt B kommt. Was sie jedoch nicht zeigen, ist, wie wir von der Reise betroffen sind, wie wir die Umgebung entlang der Strecke wahrnehmen und wie sich all dies auf unsere Pendlerentscheidungen und unsere körperliche und geistige Gesundheit auswirkt. Die ENAC-Forschenden wollten die Beziehung zwischen unserer Umwelt und unseren Entscheidungen für aktive Mobilität untersuchen, um neue Rahmenbedingungen für die Planung gesünderer und widerstandsfähigerer Städte zu schaffen: «Unsere Forschung basiert auf affektiven und verkörperten Aspekten. Wir haben das Konzept der Karte in eine gelebte Erfahrung eines gegebenen Raums umgewandelt und so neue Möglichkeiten geschaffen, die unsichtbaren Faktoren zu verstehen, die unser Verhalten beeinflussen», sagt Agustoni, Architektin bei ALICE.
Gehen und Sprechen
Die Studie konzentriert sich speziell auf Vernier, die zweitgrösste Stadt des Kantons nach Genf. Vernier grenzt an die Rhône und liegt an der Kreuzung nationaler Verkehrswege. Die Stadt bietet auffallende Kontraste zwischen heterogenen und unzusammenhängenden Stadtvierteln.
Die Forschenden baten 19 Freiwillige aller Altersgruppen, einen Weg zu beschreiben, den sie täglich zurücklegen, um Besorgungen zu machen, spazieren zu gehen oder ihre Kinder in die Kita zu bringen. Dann begleitete ein Forscher – mit GPS und Audiorecorder in der Hand – jede Teilnehmende und jeden Teilnehmenden auf einem ein- bis dreistündigen Spaziergang entlang seiner Route, sammelte ihre Geschichten und zeichnete den Weg auf: «Wir haben sie in iherer alltäglichen Umgebung über ihre Mobilitätsgewohnheiten befragt», sagt Agustoni.
Die auf diesen Wanderungen gesammelten Informationen wurden verwendet, um vier Ebenen mit interaktiven Filtern für eine neue Art von Karte zu entwickeln. Die erste Ebene zeigt die Route, die zweite die Aussicht vom Weg aus, die dritte zeigt Ausschnitte von Geschichten genau an den Stellen, an denen sie erzählt wurden, und die vierte zeigt bedeutende Orte, auf die die Teilnehmenden entlang des Weges hingewiesen haben. «Die vierte Ebene ist sehr interessant, weil sie eine alternative Geografie von Vernier schafft – die, in der die Teilnehmenden tatsächlich leben», sagt Agustoni. Pulfer fügt hinzu: «Unsere Karte gibt uns ein viel detaillierteres Verständnis der Umgebung und schafft räumliche Bezugspunkte, die sich von konventionellen Karten unterscheiden, die lokale Nachbarschaften oft homogen erscheinen lassen.»
Eine zweite Karte, der Atlas des Paysages de Mobilité («Atlas der Pendelgewohnheiten»), verwendet andere Filter, um ein weiteres, umfassenderes Verständnis dafür zu vermitteln, wie sich die Einwohnerinnen und Einwohner von Vernier fortbewegen. Auf der Grundlage bereits vorhandener geografischer Daten stellt der Atlas die Gewohnheiten der Fussgängerinnen in der Region und deren Zusammenhänge dar. Er basiert auf einer räumlichen Analyse und den Ergebnissen einer offenen Online-Umfrage, auf die mehr als 300 Antworten eingegangen sind. Die Betrachterinnen des Atlas können verschiedene Elemente sehen, die den aktiven Verkehr fördern oder behindern, wie das Ende eines Gehwegs, eine gefährliche Kreuzung oder Grünflächen. «Wir können beobachten, wie diese Faktoren die Wahrnehmung der Umgebung durch die Bewohner beeinflussen und welche Auswirkungen dies auf ihr tägliches Wohlbefinden hat», sagt Vieira Ruas.
Eine ganzheitliche Sichtweise
Solche interaktiven Karten bieten eine ganzheitlichere Sicht auf eine bestimmte Region. «Eine weniger normative, standardisierte Sicht auf eine Stadt kann Stadtplanenden helfen, die Überlegungen und Bedürfnisse der Einwohner besser zu verstehen», sagt Agustoni. «Sie können berücksichtigen, wie die Einwohner ihre Umgebung wirklich erleben und Möglichkeiten für kollektives Denken schaffen.»
Der Ansatz der Forschenden ist für die Bewohnerinnen ebenso wertvoll wie für Stadtverwaltungen und Stadtplaner: «Es ist ein Beweis dafür, wie gut die Bewohnenden ihre Umwelt kennen und wie sie eine Rolle beim Übergang einer Stadt zur Nachhaltigkeit spielen können. Forschende, Stadtverwaltungen und politische Entscheidungsträger sollten auf sie hören», sagt Vieira Ruas.