Bis 2040 könnte der Wohnungsbau Wohlbefinden und Netto-Null-Niveau vereinbaren

Der EPFL-Wissenschaftler Sascha Nick hat ein völlig neues Szenario skizziert, wie Wohnungen und Quartiere in der Schweiz in den kommenden Jahrzehnten aussehen könnten. Seine Empfehlungen würden das Land auf den Weg bringen, sein Netto-Null-Ziel zu erreichen und gleichzeitig das Wohlbefinden der Bewohner und Gemeinden zu fördern.
Gebäude renovieren statt abreissen ist die erste Empfehlung von Sascha Nick, EPFL-Wissenschaftler.© Istock/Spitzt

In Sascha Nicks Szenario werden wir im Jahr 2040 in Stadtvierteln leben, in denen alle Gebäude so renoviert wurden, dass sie optimale Temperatur-, Licht- und Lärmbedingungen bieten und eine Vielzahl von Gemeinschaftsräumen zur Verfügung stehen. Alle Dienstleistungen und Einrichtungen, die wir brauchen, werden zu Fuss erreichbar sein, und es wird mehr Vegetation und Artenvielfalt geben. All dies wird dazu beitragen, die Zersiedelung drastisch zu reduzieren: «Unser Szenario erfordert konkrete Veränderungen, die radikal, aber auch notwendig sind», sagt Nick, Wissenschaftler am Labor für Umwelt- und Stadtökonomie der EPFL, das zur Fakultät für Architektur, Bau und Umwelt (ENAC) gehört. Der ausgebildete Physiker und Wirtschaftswissenschaftler ist heute auf gesellschaftliche Transformationspfade spezialisiert. Seine neuartige Vision für die Zukunft des Schweizer Wohnraums berücksichtigt wichtige Aspekte des Gemeinschaftslebens und steht im Einklang mit den Klimazielen der Schweiz für 2050. Seine in Frontiers in Sustainability veröffentlichte Studie wurde im Rahmen des vom Bundesamt für Energie finanzierten Forschungsprogramms SWEET SWICE zur Förderung des individuellen und kollektiven Wohlbefindens in der Energiewende durchgeführt.

Um sein Szenario zu entwickeln, kombinierte Nick eine Computermodellierung mit einer Systemanalyse, bei der die Systemgrenzen berücksichtigt wurden. Er berücksichtigte alle bestehenden Gebäude in der Schweiz und die Art und Weise, wie sich die Bewohnerinnen und Bewohner zwischen den Gebäuden bewegen, etwa um ihre Kinder in die Kita zu bringen oder zur Arbeit zu gehen. Die Studie berücksichtigt weder Urlaubsreisen noch die Bewohnenden von Bauernhöfen, die 2 % der Bevölkerung ausmachen.

Renovieren statt bauen

In seiner Studie spricht Nick vier Empfehlungen aus. Die erste lautet, Gebäude zu renovieren, statt sie abzureissen und neu zu bauen: «Abreissen und neu bauen dauert länger, ist ein ökologischer Alptraum und verschandelt unser architektonisches Erbe. Es gibt derzeit 2,5 Millionen Gebäude in der Schweiz, und wir müssen mit ihnen leben.» Nur etwa 0,8 % dieser Gebäude werden jedes Jahr renoviert: «Bei diesem Tempo würde es 125 Jahre dauern, unseren gesamten Gebäudebestand zu renovieren. Ich schlage vor, ein Moratorium für den Neubau zu erlassen und die Renovierungsrate auf 5 bis 6 % pro Jahr zu erhöhen. Auf diese Weise könnten wir alle unsere Gebäude in weniger als 20 Jahren renovieren und uns dabei ganz auf die vorhandenen qualifizierten Arbeitskräfte im Baugewerbe stützen.» Die Renovierungen würden hauptsächlich aus Verbesserungen der Energieeffizienz bestehen, wie z. B. der Anbringung einer besseren Isolierung und der Umstellung auf Heizsysteme, die mit erneuerbaren Energien betrieben werden. Das wäre ein schneller und einfacher Weg, um auf fossile Brennstoffe zu verzichten – und damit die Energieresilienz der Schweiz zu stärken: «Unser Szenario greift auf bestehende Ressourcen zurück und wäre risikoarm. Aber es verlangt von uns, anders zu denken», sagt Nick.

«Wenn wir die Pro-Kopf-Fläche bis 2040 von 76 m2 auf 35 m2 reduzieren, können wir die Wohnkapazität der Schweiz verdoppeln, ohne neue Gebäude bauen zu müssen. Selbst wenn die Bevölkerung bis 2100 auf 14 Millionen ansteigt, könnten wir immer noch hochwertigen Wohnraum für alle bereitstellen. Zudem würden die Durchschnittsmieten um den Faktor zwei sinken, was die Ungleichheit deutlich verringern würde.»      Sascha Nick, Wissenschaftler am Labor für Umwelt- und Stadtökonomie der EPFL

Die zweite Empfehlung lautet, die Gebäudeflächen besser zu nutzen: «Heute beansprucht jede Person in der Schweiz insgesamt 76 m2 beheizte Fläche, darunter Wohnungen, Büros und öffentliche Gebäude», sagt Nick. Er würde diese Zahl gerne halbieren, indem mehr gemeinsam genutzte Flächen verwendet werden. So könnten beispielsweise Wohngemeinschaften gefördert werden, in denen jede Person ihr eigenes Schlafzimmer und Bad in einem Gebäude der Energieeffizienzklasse A hat. Die anderen Räume würden geteilt, ähnlich wie bei Studentenwohngemeinschaften. «Wenn wir die Pro-Kopf-Fläche bis 2040 von 76 m2 auf 35 m2 reduzieren, können wir die Wohnkapazität der Schweiz verdoppeln, ohne neue Gebäude bauen zu müssen», sagt Nick. «Selbst wenn die Bevölkerung des Landes bis 2100 auf 14 Millionen ansteigt, können wir immer noch hochwertigen Wohnraum für alle bereitstellen. Ausserdem würden die Durchschnittsmieten um den Faktor zwei sinken, was die Ungleichheit erheblich verringern würde.»

Positive Auswirkungen auf das Wohlbefinden

Die dritte Empfehlung von Nick betrifft Veränderungen auf der Ebene der Stadtviertel. Er ist der Meinung, dass Stadtteile so gestaltet werden sollten, dass alles, was die Menschen im Allgemeinen brauchen – medizinische Zentren, Geschäfte, Kindertagesstätten, Co-Working-Spaces usw. – innerhalb von 5 bis 8 Minuten zu Fuss erreichbar ist. Diese Viertel wären autofrei und würden 2000 bis 4000 Einwohner beherbergen. Ein solches Konzept würde auch das Wohlbefinden der Bewohner verbessern: «Studien haben gezeigt, dass sich Menschen glücklicher fühlen, wenn sie mehr teilen», sagt Nick.

Die vierte Empfehlung ist die Eindämmung der Zersiedelung. Der von Nick befürwortete Ansatz würde die Zersiedelung der Landschaft auf das Niveau von 1935 oder sogar 1885 zurückführen, je nachdem, welche Entscheidungen die Stadtbewohner demokratisch treffen. Etwa 25 % der Gebäude würden dann nicht mehr benötigt. In Gebieten, die sich nicht für diese Art von Nachbarschaft eignen, die Nick sich vorstellt, schlägt er vor, einen Teil der Gebäude abzureissen und die Materialien so weit wie möglich wiederzuverwenden. So entstünde Platz für Parks und Vegetation, die gemeinsam geplant werden können.

«Mein Ziel ist es, mit diesem Szenario die Debatte auf Lösungen zu lenken, die sowohl unsere Lebensqualität verbessern als auch die Schweiz ihren Klimazielen näher bringen», sagt Nick.