Von der ETH in die Klinik: Medizinische Forschung braucht Zusammenarbeit

Medizinforschung braucht noch ungelöste Fragen aus den Kliniken, sagt ETH-Vizepräsident Christian Wolfrum. Im Interview erklärt er, wie sich die Zusammenarbeit zwischen ETH-Forschung und Spitälern verbessern kann und wieso die ETH ihre Aktivitäten in der Medizinforschung bündeln will.
«Wie gelangen ETH-Forschungsergebnisse schneller in die Klinik? Darüber diskutierten Forschende mit Vizepräsident Christian Wolfrum am ersten ETH-Medizintag im Herbst 2024. Ein neues Forschungszentrum könnte helfen. (Bild: Markus Bertschi / ETH Zürich)

Was antworten Sie, wenn jemand an einer Medizin-Tagung fragt, was forscht die ETH Zürich eigentlich in der Medizin?

Christian Wolfrum: Wir forschen an neuen Lösungen für reale Fragen, die sich aus dem Klinikalltag und der Patientenversorgung ergeben und entwickeln Technologien, die sowohl für grundlegende Fragen der medizinischen Forschung als auch in der klinischen Anwendung relevant sind. Daran beteiligen sich die Bio- und Naturwissenschaften und die Daten- und Ingenieurwissenschaften.

Welche Rolle spielt die ETH in der Medizin?

Die Medizin ist eine angewandte Disziplin. Der Fokus der Ärztinnen und Ärzte liegt in erster Linie auf der Behandlung der Patientinnen und Patienten. Mit Blick auf personalisierte Diagnosen oder Therapien, die durch neue Technologien und datenwissenschaftliche Erkenntnisse getrieben werden, sind die technischen Hochschulen folglich gefragte Forschungspartner für universitäre und kantonale Spitäler. Gleichzeitig wissen die Medizinerinnen und Mediziner am besten, welche Probleme im klinischen Alltag noch ungelöst sind. Daraus ergibt sich die Forschungszusammenarbeit.

Wie gut funktioniert die Schnittstelle zwischen Medizin und ETH-Forschung?

Der Schlüssel liegt im gegenseitigen Verständnis. Wenn Forschende und Medizinerinnen und Mediziner zusammen eine neue Technologie entwickeln, lassen sie sich auf einen langen, iterativen Prozess ein. Das setzt gleichwertige Partner voraus, die einander vertrauen. Das Ziel ist es, die Silos auf beiden Seiten aufzubrechen und gemeinsam Strategien zu erarbeiten, um die identifizierten Probleme zu lösen, zum Nutzen der Patientinnen und Patienten, der Wissenschaft und der Gesellschaft im Allgemeinen. Im ETH-Bachelorstudiengang bilden wir Medizinerinnen und Mediziner mit vertieftem naturwissenschaftlichem und technischem Verständnis aus – da steht die Schnittstelle sozusagen im Mittelpunkt. Damit befähigen wir unsere Studierenden von heute, dass sie die notwendigen Brücken von morgen bauen.

Als die ETH 2017 das Bachelor-Studium in Humanmedizin einführte, wurde dies nicht überall begrüsst.

Das ist heute anders. Die Spitäler schätzen die Zusammenarbeit in der Lehre und in der Forschung. Die grösste Herausforderung sehe ich weniger bei den Lehr- und Forschungskooperationen an sich als bei den Rahmenbedingungen, also vor allem im juristischen und regulatorischen Bereich.

Weshalb?

Wir benötigen dringend Rahmenverträge für den Austausch zwischen Forschung und Klinik. Individuell funktioniert die Zusammenarbeit sehr gut. Jedoch macht zurzeit jede Professur mit jedem klinischen Partner einen eigenen Vertrag. Das ist sehr aufwändig und kann mancher Kooperation im Weg stehen. Ein Rahmenvertrag kann den Prozess enorm vereinfachen, da er die Grundprinzipien der Zusammenarbeit regelt. Zudem enthält er Vorlagen für einfache, projektbezogene Forschungs-Vereinbarungen, um den Forschenden die Zusammenarbeit zu erleichtern.

Die ETH Zürich arbeitet mit verschiedenen Partnerspitälern und Kliniken zusammen. Wie wählt sie diese aus?

Die ETH als Institution spielt bei dieser Auswahl keine Rolle. Es sind die Forschenden, die sich ihre Partnerinnen und Partner in den Kliniken aussuchen. Die Basis dafür bildet ein gemeinsames Forschungsinteresse. Wenn ich als Vizepräsident für Forschung dann feststelle, dass viele unserer Forschenden mit einem bestimmten Spital zusammenarbeiten, dann schauen wir uns das genauer an. Die ETH ist Teil des Netzwerks Universitäre Medizin Zürich (UMZH), die gemeinsam mit der Universität Zürich und den universitären Spitälern die Aktivitäten in der Medizin am Standort Zürich koordiniert – auch das schafft einen guten Rahmen für gemeinsame Forschungsprojekte und die Anwendung von Forschungsergebnissen in den Kliniken. Wir arbeiten mit dem Kantonsspital Baden (KSB) und der Schulthess Klinik zusammen und sind in engem Austausch mit weiteren Spitälern für eine vertraglich geregelte Zusammenarbeit.

«It is intended at all events to increase further the speed at which knowledge from research at ETH Zurich is translated into clinical practice – which would be a massive gain.»      Christian Wolfrum

Are contracts with hospitals abroad also considered?

Yes. There are many research cooperation undertakings and projects with Charité Berlin, for example. This is one of Europe’s largest university hospitals and among the strongest in research. We concluded a strategic cooperation agreement with Charité in 2024. As a Swiss research institution, ETH needs international partners in medicine. This particularly applies to clinical data research projects. Millions of medical data are required in order to personalise therapies reliably. We don’t have these data quantities in Switzerland. We are therefore also in talks with the Mount Sinai Hospital in New York. This hospital has almost two million patients – a quarter more than all the hospitals in Switzerland put together.

You raise an important point: research for personalised medicine is dependent on enormous quantities of data. Data exchange between hospitals and scientists in Switzerland has long been impeded by technical and regulatory obstacles. What’s the situation like today?

Although it hasn’t quite reached its goal, Switzerland has made significant progress in recent years in digitalising medically relevant data and thereby also making it available for research. This is also to the credit of the two major initiatives for personalised medicine – the Swiss Personalized Health Network (SPHN) of the Swiss Academy of Medical Sciences and the Personalized Health and Related Technologies (PHRT) of the ETH Domain.

To what extent have the two networks improved the data basis for personalised medicine in Switzerland?

The initiatives have established data infrastructures and technologies enabling both scientists and clinicians to make joint use of medical data to gain new insights and develop personalised diagnoses and therapies. Shared data infrastructures – so-called National Data Streams – have been created in particular for the four research topics “infectious diseases in intensive care medicine”, “oncology”, “paediatrics” and “patient care research”. They significantly support cooperation between research and clinical practice. Participating in such networks represents a major gain for ETH Zurich, as does participation in the Network University Medicine Zurich (UMZH) and The LOOP Zurich, the research centre for personalised medicine founded by ETH with the University of Zurich and the university hospitals.

«Auf jeden Fall soll sich die Geschwindigkeit weiter erhöhen, mit der das Wissen aus der Forschung an der ETH in die klinische Praxis gelangt – das wäre ein Riesengewinn.»      Christian Wolfrum

Am ersten «Medicine Day» der ETH Zürich von Anfang September haben Sie angekündigt, dass ein ETH-Zentrum für medizinische Forschung und humane Gesundheit geplant wird. Was versprechen Sie sich davon?

Wir haben an der ETH rund 160 Professorinnen und Professoren, die im Bereich Medizin und Gesundheit forschen. Das ist fast ein Drittel aller Professuren. Wir wollen eine koordinierende und katalysierende Struktur aufbauen, um die Grundlagenforschung, die Technologieentwicklung, die Translation und die Innovation in der Medizin zu beschleunigen. Auf jeden Fall soll sich die Geschwindigkeit weiter erhöhen, mit der das Wissen aus der Forschung an der ETH in die klinische Praxis gelangt – das wäre ein Riesengewinn.

Wie soll ein solches Zentrum diese Synergien erzielen?

In der Medizin stehen die verschiedenen Projekte und Initiativen immer wieder vor vergleichbaren Herausforderungen, wenn es um Datentransfer, gesetzliche Rahmenbedingungen, Ethik oder Kommunikation geht – da kann ein Zentrum eine Anlaufstelle für all diese Anliegen sein. Als Vizepräsident für Forschung ermögliche ich die nötigen Strukturen. Welche Aufgaben das vorgesehene Zentrum jedoch konkret wahrnehmen wird, wird derzeit zusammen mit den beteiligten Professorinnen und Professoren und den bereits bestehenden Initiativen in der medizinischen Forschung noch ausgearbeitet und diskutiert– Die endgültige Entscheidung über die Gründung eines neuen Zentrums liegt dann bei der ETH-Schulleitung.

Ist das Medizinzentrum ein erster Schritt für ein zukünftiges ETH-Medizindepartement?

Nein, ganz im Gegenteil. Es ist eine Stärke der ETH, dass die medizinische Forschung in die jeweiligen Departemente eingebunden ist und vom spezifischen Wissen der verschiedenen Fachgebiete profitieren kann. Medizin ist eine interdisziplinäre Disziplin. Dafür brauchen wir Strukturen, die die Departemente verbinden.

Sie selbst verlassen die ETH Zürich im Juni, um in die Leitung der Technischen Universität Nanyang in Singapur einzutreten. Was möchten Sie in der Medizin bis dann auf jeden Fall noch abschliessen?

Mein Ziel ist es, die Rahmenverträge mit unseren wichtigsten Partnern und das geplante Zentrum für medizinische Forschung und humane Gesundheit auf den Weg zu bringen. «Abschliessen» heisst auch nicht, dass die Entwicklung der ETH-Medizinforschung mit meinem Austritt aufhört – ihre Förderung durch die ETH in Zusammenarbeit mit den Partnern im Bildungs-, Forschungs- und Innovationssektor wird nahtlos weitergehen.