Der Klimawandel allein verursacht keine Massenmigration

Dass Menschen vor den Folgen des Klimawandels fliehen müssen, findet im globalen Süden bereits in erschreckendem Ausmass statt, sagt Jan Freihardt. Europas Angst vor massenhafter Klimamigration hält er jedoch für übertrieben – die internationale Migration habe andere Gründe. 
Jan Freihardt ist Umweltingenieur und Politikwissenschaftler am Lehrstuhl für Global Health Engineering der ETH Zürich und forscht zu Klimamigration. (Bild: ETH Zürich)

In meiner Forschung beschäftige ich mich mit klimabedingter Migration. Das ist, wenn die Folgen des Klimawandels Menschen vertreiben. Das Thema rückt medial und politisch zunehmend in den Fokus. Glücklich darüber bin ich aber nicht. Ich halte es zwar für eminent wichtig, dass wir uns als Gesellschaft mit der Realität von Klimaversehrten in fernen Ländern befassen. Eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema ist im gegenwärtigen Diskurs jedoch kaum möglich.

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Jan Freihardt ist Umweltingenieur und Politikwissenschaftler am Lehrstuhl für Global Health Engineering der ETH Zürich und forscht zu Klimamigration.

Klar ist jedoch: Der Klimawandel gefährdet bereits heute die Lebensgrundlagen von Millionen Menschen rund um die Welt.1 Tatsächlich dürften viele von ihnen infolge von Dürren, steigendem Meeresspiegel und Wetterextremen ihre Heimat dereinst verlassen müssen, um anderswo neu anzufangen.

Ein Ausblick, der im globalen Norden für politischen Zündstoff sorgt: In den Medien kursiert regelmässig das Schreckgespenst einer überbordenden Klimamigration. Vielerorts wird befürchtet, dass es zu einem massiven Ansturm von «Klimaflüchtlingen» Richtung Norden kommen wird.

Die zentrale Frage lautet also: Wohin gehen Menschen, wenn sie vor dem Klimawandel fliehen?

Ein Reallabor für Klimamigration

Antworten auf diese Frage suchen wir seit fünf Jahren in einem SNF-Forschungsprojekt in Bangladesch, das besonders stark vom Klimawandel betroffen ist.2 Sei es durch den ansteigenden Meeresspiegel und die Versalzung des Grundwassers, oder sei es durch Wirbelstürme und immer heftigere Monsunregen – in Bangladesch zeigt sich wie unter einem Brennglas schon heute, was auch Europa erwartet: Die Umwelt verändert sich rasant und bedroht unsere Lebensgrundlagen.

Am Fluss Jamuna lässt sich das eindrücklich beobachten. Während in der Trockenzeit das Wasser majestätisch durch die Landschaft mäandriert, ereignet sich in der Regenzeit Ungeheuerliches: Der Fluss schwillt drastisch an und reisst an den sandigen Böden seiner steil abfallenden Ufer, Stück für Stück bricht Ackerland und Siedlungsfläche ab, Häuser und ganze Dörfer verschwinden in den Fluten.

Seit 2021 begleiten wir 1700 Familien, die damals noch alle am Flussufer des Jamuna lebten. Bei unserem jüngsten Besuch im Frühjahr 2024 hatte sich der Fluss teils mehr als 500 Meter ins Land gefressen und dabei Tausende Häuser zerstört. Gemeinsam mit lokalen Studierenden habe ich für meine Doktorarbeit in detektivischer Kleinarbeit alle Teilnehmenden aufgespürt, die ihr Haus verlassen mussten.3 Was ich dabei erfahren habe, hat mich menschlich zutiefst berührt – und wissenschaftlich oft überrascht.

Von wegen nichts wie weg

Wir hatten erwartet, dass die Menschen dieser landfressenden Gewalt so rasch wie möglich den Rücken kehren – doch das Gegenteil ist der Fall: Die Betroffenen bleiben dem Fluss erstaunlich treu. Selbst jene, die bereits mehrfach ihr Haus verloren haben, wollen meist um jeden Preis in ihrem Dorf bleiben. Umziehen kommt für viele erst als letzte Option in Frage.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Manche haben noch ein Stück Land in der Nähe, das sie bebauen. Andere halten soziale Banden wie Familie und Freund:Innen zurück. Was mich am meisten beeindruckt hat, sind der Optimismus und die Hilfsbereitschaft der Menschen. Auch wenn ihnen der Boden unter den Füssen wegerodiert, helfen sie, das Haus des Nachbarn, das noch näher am Abgrund steht, ab- und einige Meter landeinwärts wieder aufzubauen.

«Klimaversehrte fliehen kaum über Landesgrenzen hinweg. Vielmehr verschärft der Klimawandel bereits bestehende wirtschaftliche Ungleichheiten, die der eigentliche Treiber hinter den internationalen Migrationsmustern sind.»      Jan Freihardt

Unsere Resultate bestätigen, was andere Studien bereits nahelegten: Von all den Menschen, die ihr Dorf aufgrund der Erosion verlassen mussten, sind die meisten nur wenige Kilometer weitergezogen. Einige hat es in die Hauptstadt Dhaka verschlagen. Doch nur ganz wenige haben Bangladesch verlassen. Ihre Hauptmotivation war dabei aber nicht der Klimawandel – sondern die Hoffnung, im Ausland einen besseren Job zu finden.

Wir haben unsere Forschung zu klimabedingter Migration in Bangladesch in einem Video dokumentiert. Vergangene Woche habe ich das Video zusammen mit den Resultaten an der Weltklimakonferenz in Aserbaidschan präsentiert.

ETH Zurich-Forschende um Jan Freihardt haben in Bangladesch zusammen mit einem lokalen Team untersucht, wie Menschen reagieren, die ihre Existenzgrundlage an einen reissenden Fluss verlieren. (Video: Anna Campert & Jan Freihardt / ETH Zürich)

Meine Botschaft an die Delegationen: Klimamigration ist kein fernes Zukunftsszenario, sondern schon heute bittere Realität für Millionen von Menschen. Diese fliehen jedoch kaum über die Landesgrenzen in andere Länder.

Ein klärender Blick auf die Klimamigration

Aus meiner Sicht ist unsere gesellschaftliche Diskussion rund um Klimamigration gleich dreifach fehlgeleitet: Sie ist faktisch falsch, politisch gefährlich und moralisch verwerflich. So steht die vielbeschworene «Klimamigrationswelle» auf dünner Grundlage. Entsprechende Medienberichte fussen meist auf fragwürdigen Studien, die einfach alle potenziell klimaversehrten Menschen in einer Region zu internationalen Klimaflüchtlingen hochrechnen, aber Binnenmigration und «Bleiben und Anpassen» vernachlässigen.

Solche übertriebenen Prognosen werden von populistische Kräften in Europa und in den USA missbräuchlich verwendet, um gezielt Ängste vor Massenmigration zu schüren und Stimmung gegen Migrant:Innen zu machen.

Schliesslich verkennt der globale Nordern seine Verantwortung, wenn er auf den Klimawandel als hauptsächliche Ursache für die Migration nach Europa und in die USA verweist.

Menschen migrieren seit jeher, um anderswo bessere Lebensbedingungen zu finden – nicht erst seit dem Klimawandel. Dieser verschärft jedoch bestehende wirtschaftliche Ungleichheiten, die der eigentliche Treiber hinter den internationalen Migrationsmustern sind.

Wer sich also ernsthaft um die zunehmende Migration nach Europa Sorgen macht, sollte vor allem den Abbau dieser Ungleichheiten in Angriff nehmen. Das würde auch den Menschen vor Ort am besten dienen.