Augmented Reality im Dienste des Tischlerhandwerks
Holz ist dank seiner geringen Umweltauswirkungen, seiner Kohlenstoffspeicherkapazität, der Möglichkeit einer schnellen Montage und seiner hervorragenden Dämmeigenschaften ein immer beliebteres Baumaterial. Die steigende Nachfrage nach Holzkonstruktionen und der technologische Fortschritt haben in den letzten 20 Jahren viele Hersteller dazu veranlasst, ihre Prozesse zu automatisieren. Heute finden wir in ihren Werkstätten hochentwickelte Roboter – ebenso beeindruckende wie teure Maschinen, die mit Gelenkarmen und Präzisionsschneidern ausgestattet sind, um sich wiederholende, aber komplizierte Aufgaben auszuführen.
An der EPFL haben Ingenieurfachleute ein AR-basiertes System namens Augmented Carpentry entwickelt, das mit dem Klischee des Zimmermanns, der mit einem Bleistift in der einen und einem Massband in der anderen Hand arbeitet, aufräumen könnte. Das als Open Source verfügbare System ist ein erster Schritt in Richtung eines hybriden Prozesses, der die Geschicklichkeit des Menschen mit der Zuverlässigkeit der Computerverarbeitung verbindet. Augmented Carpentry ist in der Lage, digital unterstützte Holzzuschnittmethoden für kleine Unternehmen, Holzarbeiter und Baufachleute in Entwicklungsländern erschwinglich zu machen.
Ein vergrösserter Arbeitsraum
Das System ist das Ergebnis vierjähriger Forschungs-, Entwicklungs- und Testarbeiten von Andrea Settimi, einem EPFL-Doktoranden, dessen Dissertation von Julien Gamerro, einem ehemaligen Postdoktoranden, und Yves Weinand, dem Leiter des EPFL-Labors für Holzbau (IBOIS), gemeinsam mit mehreren anderen Projektbeteiligten betreut wird. Es ist in der Lage, Hologramme mit Submillimeter-Präzision zu erzeugen, um den menschlichen Bedienenden zu führen. Das Gerät besteht aus einem Bildschirm, auf dem ein virtueller Arbeitsbereich über realen Holzstücken angezeigt wird. Linien in verschiedenen Farben geben zahlreiche Hinweise: wie das Werkzeug zu positionieren ist, wie tief gebohrt werden muss, was der richtige Schnittwinkel ist, wie lang ein Schnitt sein sollte und so weiter. Unser System verfügt über einen Erkennungsmechanismus und integrierte Sensoren, die in Echtzeit eine Rückmeldung geben», erklärt Settimi, «wenn beispielsweise das Holzbearbeitungswerkzeug oder der zu bearbeitende Balken verrutscht, bleibt das virtuelle Overlay auf das tatsächliche Holzstück ausgerichtet, so dass die Bedienenden sofort sehen können, wie sie ihre Bewegungen anpassen müssen.»
Um eine so hohe Präzision zu erreichen, hat das Forschungsteam verschiedene Aspekte der Computer-Vision-Technologie untersucht und sie sorgfältig in sein Gerät integriert, so dass es sowohl das Holzbearbeitungswerkzeug als auch das spezifische Holzstück und den Holzbearbeitungsplan einbeziehen kann. Sie scannten und erstellten 3D-Computermodelle von häufig verwendeten Werkzeugen und schufen so eine umfangreiche Datenbank. Um das System zu nutzen, scannen die Bedienenden zunächst ihre Holzstücke stapelweise ein, so dass das Programm die Details jedes einzelnen Stücks erfassen kann. Dann platzieren sie nach dem Zufallsprinzip Markierungen auf den Holzstücken, so dass das System deren Ausrichtung und Position erkennen kann. Der letzte Schritt ist das Hochladen der Holzbearbeitungspläne, die direkt in das Programm in 3D integriert und in der erweiterten Realität angezeigt werden.
Erkennen von Trägern und Werkzeugen in unübersichtlichen Werkstätten
Dank des Einsatzes von Computer Vision und Sensoren können Standard-Holzbearbeitungswerkzeuge zu intelligenten Geräten werden, die den Benutzenden in Echtzeit führen. Das System visualisiert zum Beispiel Schnittlinien direkt auf einem Balken und zeigt den Bedienenden genau, wohin sie die Säge führen müssen. Ein wichtiger Teil des Forschungsprojekts war die Entwicklung fortschrittlicher Computer-Vision-Methoden zur Erkennung von Gegenständen und zur Positionierung der Kamera in komplexen, unübersichtlichen Räumen wie Werkstätten. In diesen Räumen befinden sich in der Regel verschiedene Arten von Objekten – andere Holzstücke, Werkzeuge, Platten usw. – , die in keiner bestimmten Reihenfolge verstreut sind, was es für Computer-Vision-Systeme schwierig macht, die Umgebung zu erfassen. Das Forschungsteam arbeitete mit dem Zentrum für Bildverarbeitung der EPFL zusammen, um Programme zu entwickeln, die in der Lage sind, die Objekte von Interesse – in diesem Fall Holzbearbeitungswerkzeuge und Holzteile – genau zu erkennen und zu lokalisieren. Derartige Fähigkeiten wurden im Holzbau bisher noch nie in diesem Umfang eingesetzt und sind für die Übereinstimmung des virtuellen Arbeitsbereichs mit der physischen Realität unerlässlich.
Digital unterstützte, manuelle Bauweisen, die lokal und belastbar sind
Dank Augmented Carpentry können auch kleine Unternehmen und Holzhandwerker komplizierte Formen und Designs erstellen – eine Aufgabe, die bisher teuren Robotern vorbehalten war. «Ein weiterer Vorteil unseres AR-Systems besteht darin, dass es die menschlichen Fähigkeiten nutzt, selbst wenn die Bedienenden wenig geschult sind, um Bauprozesse schnell zu digitalisieren», sagt Settimi. Durch die Nutzung des Potenzials der Mensch-Maschine-Kollaboration für das moderne Zimmererhandwerk und den Entwurf von Holzkonstruktionen kann Augmented Carpentry sicherstellen, dass die menschlichen Bedienenden in den Prozess eingebunden bleiben, und so digital unterstützte, lokale und sozial verantwortliche Bauverfahren fördern», sagt er.