Die Gebäude von heute, eine Goldmine für die Wohnungen von morgen

Den Neubau eindämmen, bestehende Gebäude zügig renovieren und deren Nutzung überdenken: Das sind laut Philippe Thalmann, Professor für Stadt- und Umweltökonomie an der EPFL, die Schritte, die wir unternehmen müssen, um sowohl die Klimaziele zu erreichen, als auch eine ständig wachsende Bevölkerung zu beherbergen.
© 2024 EPFL - Illustration von Jeanne Guerard

Wie können wir sicherstellen, dass jeder in Zukunft ein angemessenes Dach über dem Kopf hat? Diese Frage ist angesichts der demografischen, wirtschaftlichen, klimatischen und ökologischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, dringender denn je. Die Bewältigung dieser Herausforderungen erfordert grundlegende Veränderungen in nahezu jedem Wirtschaftszweig, auch im Bauwesen. Auch unsere Lebensgewohnheiten werden sich anpassen müssen.

Prognosen zufolge wird die Bevölkerung der Schweiz weiter wachsen und bis 2050 die Zahl von heute 9 Millionen auf 10 Millionen erhöhen. Die Bevölkerung wird auch älter werden, und die Zahl der über 80-Jährigen wird sich gegenüber heute verdoppeln. Die Wohnungen von morgen müssen auf diese Trends abgestimmt sein. Und sie müssen dazu beitragen, das Netto-Null-Ziel für 2050 zu erreichen, das sich die Schweizer Regierung gesetzt hat und das im Juni 2023 von den Stimmberechtigten angenommen wurde.

«Die einzige Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, besteht darin, den Bau neuer Gebäude drastisch einzuschränken und die Arbeitskräfte der Industrie auf den Umbau und die Renovierung bestehender Gebäude umzulenken», sagt Philippe Thalmann vom Labor für Umwelt- und Stadtökonomie der EPFL. Durch die Verringerung des Flächenverbrauchs, die Senkung der Kohlenstoffemissionen und andere Massnahmen wird ein solcher Wandel auch den ökologischen Erfordernissen gerecht. Aber wie kann ein Land, das mit einem anhaltenden Wohnungsmangel konfrontiert ist, eine wachsende Bevölkerung unterbringen, ohne mehr Wohnungen zu bauen?

Für Thalmann liegt die Antwort in einem grundlegenden Paradigmenwechsel: Anstatt unablässig immer mehr Wohnungen zu bauen, sollten wir überlegen, wie wir die bereits vorhandenen besser nutzen können. Denn wir haben bereits mehr als genug Platz zur Verfügung.

© 2024 EPFL - Illustration von Jeanne Guerard

Raum in Hülle und Fülle

Der Wohnungsbestand der Schweiz ist, gemessen an der Fläche, viel schneller gewachsen als die Bevölkerung: von 34 m² pro Kopf im Jahr 1980 auf 46 m² im Jahr 2020. Auch an Zimmern mangelt es nicht: 18 Millionen Zimmer stehen 9 Millionen Menschen zur Verfügung, was zwei Zimmer pro Person entspricht. Sogenannte «leere Schlafzimmer» sind ein grosses Problem – nicht nur in Berghütten. In vielen Hauptwohnsitzen gibt es Schlafzimmer, die nur genutzt werden, wenn Freunde zu Besuch kommen, die von erwachsenen Kindern, die das Nest verlassen haben, leer gelassen wurden oder von getrennt lebenden Paaren, die sich das Sorgerecht für die Kinder teilen, in Teilzeit genutzt werden.

«So viel Platz ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können», sagt Thalmann, «wenn wir unseren Wohnungsbestand umstrukturieren und zu den bereits komfortablen Standards der 1990er Jahre zurückkehren, sollten wir in der Lage sein, die wachsende Bevölkerung unterzubringen».

Die Wohnungsnot in der Schweiz führt Thalmann eher auf die ungleiche Verteilung einer endlichen Ressource als auf einen echten Wohnungsmangel zurück: «Wir können die Schweizer Bevölkerung im Grunde in zwei Gruppen einteilen: eine, die vor langer Zeit, als die Preise noch angemessen waren, meist ältere, grössere Wohnungen gekauft hat, und eine, die erst kürzlich in die Schweiz gezogen oder hierher gekommen ist und deren einzige Möglichkeit darin besteht, in einer winzigen Wohnung zu einem exorbitanten Preis zu leben. Es geht also darum, den vorhandenen Wohnungsbestand gerechter zu verteilen.»

© 2024 EPFL - Illustration von Jeanne Guerard

Auch das den Vereinten Nationen angegliederte International Resource Panel (IPR) nennt die Verringerung der Pro-Kopf-Fläche als Schlüsselmassnahme für einen nachhaltigeren Wohnungsbau. Einem IPR-Bericht aus dem Jahr 2020 zufolge könnten durch eine intensivere Nutzung von Wohngebäuden die Treibhausgasemissionen der Bauindustrie in den G7-Ländern bis 2050 um bis zu 70 % gesenkt werden – eine wesentlich stärkere Reduzierung als durch andere Massnahmen wie die Verbesserung der Recyclingquoten (14 %-18 %), die ressourcenschonendere Gestaltung von Gebäuden (8 %-10 %) oder die Verwendung von Holzbauweisen (1 %-8 %) erreicht werden könnte.

«Die einzige Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, besteht darin, den Bau neuer Gebäude drastisch einzuschränken und die Arbeitskräfte der Branche auf den Umbau und die Renovierung bestehender Gebäude umzulenken.»      Philippe Thalmann, Professor am LEURE der EPFL

Senkung der Erwartungen

Dieser neuartige Ansatz für nachhaltiges Wohnen bedeutet, dass bestehende Ideale in Frage gestellt werden, z. B. der Wunsch der Menschen nach einem freistehenden Haus oder einem Zweitwohnsitz, und dass ganz allgemein die Erwartungen an den Platz, den wir für einen angemessenen Lebensstandard benötigen, gesenkt werden.

Die Herausforderung besteht natürlich darin, dass die Menschen weniger Platz mit weniger Komfort gleichsetzen könnten. Deshalb betont Thalmann auch die Vorteile kleinerer Wohnungen: «Die Hälfte der städtischen Wohnungen wird derzeit von einer Person bewohnt, die allein lebt. Gleichzeitig erleben wir eine Epidemie der Einsamkeit. Das beweist, dass mehr Platz nicht glücklich macht. Stellen Sie sich vor, wir würden diesen Menschen mehr gemeinschaftliche Wohnformen anbieten. Sie hätten ihr eigenes Schlafzimmer, eine Kochnische und ein eigenes Bad. Aber als Bonus hätten sie auch gemeinsame Lebensräume wie einen grossen Aufenthaltsraum, einen Garten und andere Annehmlichkeiten. Sie würden dieses Arrangement mit Sicherheit als vorteilhaft empfinden, nicht zuletzt, weil sie mit anderen Mitgliedern ihrer Gemeinschaft in Kontakt treten könnten.»

Thalmann fügt hinzu, dass die Menschen in Zukunft wahrscheinlich neue Modelle des Zusammenlebens erkunden werden. Das Zusammenleben mit Mitbewohnern wird immer beliebter, und zwar nicht nur unter Studierenden: Auch ältere Menschen interessieren sich für dieses Konzept, das einen Beitrag zur Bewältigung der Herausforderungen einer alternden Bevölkerung leisten könnte. In der Zwischenzeit experimentieren Genossenschaften mit neuen Wohnformen wie Cluster-Wohnungen und verschiedenen Arten von Öko-Vierteln: «Kurzum, wir müssen das Zusammenleben neu lernen», fasst Thalmann zusammen.

© 2024 EPFL - Illustration von Jeanne Guerard

Warum bauen, wenn man auch renovieren kann?

Wenn die Schweiz ihr Netto-Null-Ziel bis 2050 erreichen will, muss sie dringend Gebäude sanieren, um ihre Energieeffizienz zu verbessern.

«Die Rechnung ist einfach: Rund 75 % der Gebäude in der Schweiz müssen in den nächsten 25 Jahren saniert werden, um die Klimaziele der Regierung zu erreichen. Das ist eine Rate von 3 % pro Jahr. Derzeit werden jedoch weniger als 1 % der Gebäude jährlich saniert», sagt Philippe Thalmann vom Labor für Umwelt- und Stadtökonomie (LEURE) der EPFL. Seine Forschungsgruppe hat 2022 im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms für eine nachhaltige Wirtschaft eine Studie zur energetischen Sanierung* durchgeführt.

Was können wir tun, um den Prozess zu beschleunigen? Mehr Bauarbeiter anstellen? Thalmann weist darauf hin, dass es schon jetzt schwierig ist, genügend qualifizierte Arbeitskräfte zu finden: «Rund 25 % der Beschäftigten im Baugewerbe sind derzeit mit Sanierungsprojekten beschäftigt, die restlichen 75 % mit dem Bau von neuen Gebäuden. Wenn wir die Klimaziele der Regierung ernsthaft erreichen wollen, muss sich dieses Verhältnis zumindest umkehren.

Es gibt jedoch eine Reihe von Hindernissen, unter anderem wirtschaftlicher Art, die einer solchen Umstellung im Wege stehen: «Die Bauunternehmen sind nicht sehr daran interessiert, die Zahl der Neubauten zu verringern, da dies nicht in ihrem Interesse liegt», sagt Thalmann, «hinzu kommt die Frage des Bodenwerts: Grundstückseigentümerinnen und Grundstückseigentümer lehnen häufig Initiativen ab, die darauf abzielen, bebaubare Flächen in andere Kategorien umzuwandeln, um beispielsweise Ackerland zu erhalten oder die biologische Vielfalt zu schützen. Land verliert viel von seinem Marktwert, wenn es nicht bebaut werden kann. Darüber hinaus sind auch die Banken durch die von ihnen gewährten Hypothekendarlehen daran beteiligt. Das ist ein wirklich kompliziertes Thema.

Wir müssen auch bedenken, dass nicht alle Immobilienbesitzerinnen und Immobilienbesitzer über die gleichen Mittel verfügen. Diejenigen, die viel Geld haben, wie Pensionsfonds, Behörden und Genossenschaften, haben ihre Gebäude meist schon auf den neuesten Stand gebracht. Die Kunst besteht nun darin, die anderen davon zu überzeugen, diesem Beispiel zu folgen.

Viele Immobilienbesitzer haben weder die Mittel noch den Anreiz, die notwendigen Arbeiten durchzuführen. Vierzig Prozent der Häuser in der Schweiz werden von den Eigentümern selbst bewohnt. Bei Eigentumswohnungen ist es schwierig, alle zu einer Einigung über die durchzuführenden Renovierungsarbeiten zu bringen, und nicht alle haben die gleichen finanziellen Möglichkeiten, um einen Kredit aufzunehmen. Einfamilienhäuser befinden sich oft seit Jahrzehnten im Besitz derselben Familie und werden nun von Personen im Ruhestand bewohnt, die möglicherweise nicht genug Ersparnisse für umfangreiche Renovierungsarbeiten haben.

Ein bisschen von allem, auch gutem Willen

Die restlichen 60 % der Wohnungen werden von Mieterinnen und Mietern bewohnt. Die Hälfte davon wird von Privatpersonen vermietet, von denen viele auf die Mieteinnahmen angewiesen sind, um ihre Rente aufzubessern. Diese Eigentümerinnen und Eigentümer halten lieber an den Einnahmen fest, als in die Verbesserung der Energieeffizienz zu investieren. Und die bestehenden staatlichen Subventionen reichen im Allgemeinen nicht aus, um sie umzustimmen.

Könnte die Antwort darin bestehen, Gebäude mit einem großen Kohlenstoff-Fussabdruck zu verbieten? Das ist politisch sehr kompliziert. Oder neue Steuern einführen, zum Beispiel auf Heizöl? Das käme bei den Wählern nicht gut an und würde Immobilieneigentümer nicht unbedingt zur Renovierung ermutigen. Wie wäre es mit zusätzlichen Subventionen? «Das könnte eine Option sein, aber es würde die Eigentümerinnen und Eigentümer nicht dazu zwingen, die notwendigen Arbeiten durchzuführen, die komplex sein können und die Beziehungen der Vermieter zu ihren Mieterinnen und Mietern beeinträchtigen könnten», sagt Thalmann, «aber abgesehen davon, warum sollten die Steuerzahler die Last tragen müssen? Es gibt keine Patentlösung. Wahrscheinlich ist von allem etwas nötig: finanzielle Unterstützung, Steuern und ein wenig Überzeugungsarbeit. Auch die Grundstückseigentümer müssen ein wenig nachhelfen.»

*Mieuxutiliser le parc de logements pour réduire ses impacts environnementaux, Studie von LEURE im Rahmen des Schweizerischen Nationalen Forschungsprogramms Nr. 73 zur nachhaltigen Wirtschaft, Juni 2022.