Frischer Wind im Energiesektor
Liliane Ableitner ist längst ein Profi. Innert kürzester Zeit hat sie den Übergang von der Doktorandin an der ETH Zürich zur CEO eines international tätigen Start-ups geschafft. Inzwischen hält sie TED-Talks, wurde mehrmals von der Handelszeitung interviewt und stand 2020 auf der Forbes-Liste der einflussreichsten 30 unter 30 in der Region Deutschland, Österreich und Schweiz. Ganz abgesehen davon, dass die heute 32-Jährige täglich mit den CEOs grosser Energiekonzerne verhandelt, mit ihnen über die Stromzukunft spricht und darüber, was ihre Firma Exnaton und ihr Softwareprodukt dazu beitragen können. Dass Liliane Ableitner dort auf Augenhöhe mitredet, mehr noch, die Branche mitprägt, glaubt man sofort, so selbstbewusst und routiniert wirkt sie. Doch das musste gelernt sein. «Ich muss mich in diesem traditionellen Sektor manchmal ganz schön behaupten», sagt Ableitner. Das passt zu ihrem Produkt: Auch dieses bringt frischen Wind in die Energiebranche.
Skepsis aus der Energiebranche
Schon im Wirtschaftsinformatikstudium an der Universität Bamberg in Bayern hatte sich Ableitner auf das Thema Energie konzentriert. «Mich hat vor allem die Frage umgetrieben, wie wir die privaten Haushalte mit in die Energiewende nehmen.» In ihrer Doktorarbeit an der ETH arbeitete sie dann zunächst daran, die Energiedaten der Haushalte zu visualisieren. «Ein direktes Feedback zeigt den Menschen: Du brauchst so viel Strom und so viel Warmwasser», erklärt Ableitner, «und wenn du hier reduzierst, tust du der Umwelt etwas Gutes.» Später kam sie auf die Idee, die Produktion von Strom mit einzuschliessen: Sie wollte Haushalte, die mit einer Solaranlage Strom produzieren, mit anderen Haushalten zusammenbringen und einen lokalen Stromhandel ermöglichen. Gemeinsam mit weiteren Kolleg:innen von der ETH reichte sie beim Bundesamt für Energie einen Forschungsantrag ein. Das Projekt wurde finanziert und gross aufgezogen: Mit dabei waren auch Forschende der Universität St. Gallen und als Partner etwa die BKW und die SBB.
Allerdings kam die Idee des jungen Teams nicht von Anfang an gut an. «Am Kick-off-Meeting waren viele der etablierten Energiegeneration im Raum, und alle waren kritisch», erinnert sich Ableitner. Sie meinten, die Bevölkerung interessiere sich nicht für den lokalen Stromhandel. Es sei zu früh für das Projekt. «Wir waren damals ziemlich entmutigt nach dem Treffen», erzählt Ableitner.
Stromhandel im Quartier
Dennoch macht das Team weiter und konstruiert den Prototyp der Software inklusive Smartphone-App. Zu Ableitners Aufgaben gehört es, die App zu gestalten, zu programmieren und zu evaluieren. Im vergleichsweise kleinen Energieunternehmen EW Walenstadt finden die Forschenden einen Praxispartner: 40 Testhaushalte eines Quartiers im St. Gallischen Walenstadt machen mit. Einige produzieren mit Solaranlagen Strom, andere kaufen den Überschuss. Dabei sorgt die inzwischen PowerQuartier getaufte App für eine problemlose Bewirtschaftung: Sie analysiert Tausende Datenpunkte von den Smartmetern in den Haushalten und zeigt in Echtzeit den Stromverbrauch sowie wer mit wem handelt. Ebenfalls über die App bieten die Verkäufer- und Einkäufer-Haushalte Strompreise, sodass der Algorithmus Angebot und Nachfrage berechnen kann.
Als Ableitner und ihre Kolleg:innen die Nutzungsdaten aus Walenstadt anschauen, sind sie überwältigt davon, wie gut der Stromhandel per App ankommt: Manche Haushalte loggen sich gar täglich ein, die meisten einmal im Monat. «Das ist enorm häufig, verglichen damit, wie selten die Haushalte sonst mit ihrem Stromverbrauch in Berührung kommen, nämlich einmal im Jahr bei der Abrechnung», sagt Ableitner. Auch der Stromhandel funktioniert: Die Haushalte verändern fleissig die Preise und bestimmen so den eigenen Markt mit. Und plötzlich schlägt das Pionierprojekt in der ganzen Schweiz mediale Wellen. Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger rufen das Team an der ETH an, um zu fragen, wie sie dabei sein können. «Wann kommt das Projekt nach Opfikon, wann nach Biel, fragten die Leute», erzählt Ableitner und freut sich noch heute darüber. Der unerwartete Erfolg beflügelt das Team. 2020 gründet Ableitner zusammen mit den Partner:innen Anselma Wörner und Arne Meeuw das Start-up Exnaton.
Alt und neu verbinden
Eine Schwierigkeit nach der Gründung: Welches Feedback soll das junge Team annehmen, welches beiseitelassen? Denn: «Feedback erhält man dauernd, angefangen bei der Farbe des Logos bis hin zum Geschäftsmodell», sagt CEO Ableitner. Auf Geldsuche pitcht das Team unzählige Male vor Investoren und alle haben eine Meinung. «Die einen meinten, wir sollten PowerQuartier an Energieversorger verkaufen, die anderen rieten uns davon ab – wir sollten direkt die Haushalte als Kunden anpeilen.»
Exnaton entscheidet sich für die Energieunternehmen als Kunden. Denn diese müssen sich darauf einstellen, dass künftig immer mehr Haushalte eigenen Strom produzieren, und benötigen ein Dienstleistungsangebot, das es ihnen erlaubt, ihre Kunden mit in die Energiewende zu nehmen. PowerQuartier bringt genau das: Das Tool verarbeitet die detaillierten Stromdaten aus lokalen Energiegemeinschaften mit unterschiedlichen Tarifen zu unterschiedlichen Zeitpunkten – eine Voraussetzung, um mit solchen Energiegemeinschaften umgehen zu können. «Damit ermöglichen wir den Energieunternehmen quasi, alt und neu zu verbinden», sagt Ableitner. «Sie können ihre Netzinfrastruktur nutzen, um Energiegemeinschaften die richtigen Informationen und Services zur Verfügung zu stellen.»
Arbeiten im Abenteuerland
Dennoch: Ableitners Exnaton ist im Austausch mit Energieunternehmen der David inmitten von Goliaths. Was hilft? «Wenn man von der eigenen Idee überzeugt ist, weil man weiss, wofür man kämpft», sagt Ableitner. Ein guter Teil davon ist ihre Aufgabe. Als CEO ist sie das Gesicht der Firma, Sales- und Marketingverantwortliche und Chefin von aktuell 20 Mitarbeitenden. Diese sitzen nicht nur im Hauptbüro in Zürich, sondern auch in Deutschland, Schweden, Belgien, Italien, Spanien und Ägypten. Der Arbeitsplatz, an dem sich alle treffen, ist virtuell, kreiert mit einem Tool namens WorkAdventure. Darin können die Mitarbeitenden als Avatare, die an frühere Nintendofiguren erinnern, etwa am Arbeitsplatz sitzen, sich besuchen oder im Besprechungsraum treffen – dann startet automatisch eine Videokonferenz. «Das sorgt trotz der Distanz für eine Zusammengehörigkeit im Team», sagt die CEO.
Seine Kunden hat Exnaton bislang vor allem in Deutschland, Österreich und Luxemburg. In der Schweiz wird die Möglichkeit von Energiegemeinschaften über ganze Quartiere hinweg erst im Parlament diskutiert. Andere Länder sind weiter: In Österreich etwa ermöglicht PowerQuartier, dass Energieversorger für Energiegemeinschaften eine Art Abo anbieten, wie Ableitner erzählt. «Dieses kostet drei oder vier Euro pro Monat, dafür übernimmt das Unternehmen die praktischen Belange des Stromhandels.» Die Haushalte bekommen die App, mit der sie handeln und dabei etwas Gutes für die Umwelt tun können – genau das, was Liliane Ableitner von Anfang an erreichen wollte.
Was kommt für sie als nächstes? «Die kommenden Jahre sind auf die Firma fokussiert, das ist ganz klar.» Danach? Sie könnte sich durchaus vorstellen, eine neue Firma zu gründen, vielleicht ein zweites Energie-Start-up – wenn sie die nächste Marktlücke im Energiesektor entdeckt.