Der Windkanal – unendliche Weiten
Benjamin Walter erinnert an eine gelb-blaue Mischung aus Teletubby und Michelin-Männchen. Kein Wunder, denn als der Wissenschafter aus der Gruppe Schneephysik die Türe zu seinem Labor öffnet, schlägt ihm eiskalte Luft entgegen. Zwischen minus 20 und minus 25 Grad Celsius, wer hier arbeitet, benötigt einen Schutzanzug, wie ihn Walter trägt. Im Kältelabor des WSL-Instituts für Schnee und Lawinenforschung SLF untersucht er Eigenschaften von Schnee in einem Windkanal. Seine Ergebnisse zeigen beispielsweise, unter welchen Windbedingungen sich Wechten an Berggraten aufbauen und wie sich gefährliche Schwachschichten bilden können.
Das Grundprinzip ähnelt Verfahren in der Automobil- und Luftfahrtindustrie. Nur, dass es dort darum geht, Luftwiderstände zu ermitteln und zu optimieren. Das untersuchte Objekt steht dabei fix an seinem Platz.
Am SLF hingegen treibt der Wind den Schnee immer im Kreis. «Wir simulieren so unendliche Weiten», erklärt Walter und zeigt auf ein Schauglas. Mit einer Geschwindigkeit von bis zu 25 Stundenkilometern sausen die Kristalle vorbei, immer wieder. Gerade mal eine Sekunde benötigen sie, um eine Runde in dem Kanal aus Holz zu drehen.
Premiere für Wechten
Walter kontrolliert Kabelanschlüsse, die Daten an einen Computer übertragen. Eine Kamera filmt den Schnee im Flug, Sensoren messen die Windgeschwindigkeit, die Temperaturen von Luft und Schnee sowie die Luftfeuchtigkeit.
«Es gab noch nie zuvor Experimente an einem Ringwindkanal im Labor, die untersuchten, wie sich Schnee durch Wind verdichtet», sagt Walter. Die Dichte hänge dabei stark von der Windgeschwindigkeit und der Lufttemperatur ab. Im Windkanal simuliert er, wie sich Schneedecken bei starkem Wind aufbauen. Dies erlaubt ihm, die Schneedecke für Orte zu simulieren, an denen niemand Schnee und Wetter misst.
«Im Wind zerbrechen die feinen Kristalle, wodurch kleinere Bruchstücke entstehen und die Schneedecke dadurch kompakter wird», erläutert Walter. Für eine aktuelle Studie hat er zudem untersucht, wie Wechten entstehen. Dafür hat er ein Modell eines Berggrates aus Schnee im Kanal modelliert, an dem sich im Laufe der Zeit Schnee ablagert und sich eine Wechte bildet. Das Überraschende: Die Wechten bilden sich vorzugsweise bei mittleren Windgeschwindigkeiten. Weht es zu wenig, kommt nicht genügend Schnee an, weht es zu stark, bläst der Wind den Schnee weg.
Dem Oberflächenreif auf der Spur
Hinter Walter öffnet seine Kollegin Sonja Wahl eine Abdeckung im Windkanal. Mit einer Art Kescher mit einem Beutel an Stelle des Netzes sammelt sie Schneekristalle aus dem Wind. Mehrere Minuten dauert es, bis sie endlich eine halbe Handvoll beisammen hat. Dann verschwindet sie in einen Nebenraum, um ihre Probe zu analysieren.
Vor Weihnachten hatte Walters Gruppe einen weiteren Aspekt untersucht, der vor allem für Ski- und Schneeschuhtourengeher relevant ist. Aus Wasserdampf über einer sehr kalten Kupferplatte züchteten sie Oberflächenreif bei moderatem Wind. Ziel, so Walter: «Wir wollen wissen, unter welchen Bedingungen sich diese typische Schwachschicht für Lawinen am ehesten entwickelt.»
Dieser Artikel erschien zuerst am 28. Februar 2023 in der Davoser Zeitung.