Geheimnisse des Überlebens einer Alpenblume entschlüsselt

Ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der EPFL und anderer Forschungsinstitute hat herausgefunden, wie eine Alpenblume überlebt, indem sie ihre Gene an die lokalen Lebensräume anpasst. Diese Entdeckung hat wichtige Auswirkungen auf den Schutz bedrohter Ökosysteme.
Die Alpen-Felsenkresse hat weisse Blüten und wächst auf felsigen, sandigen Bergböden sowie in Felsspalten © GEOME / 2024 EPFL CC-BY-SA 4.0

In den Alpen sind abenteuerlustige Wanderer nicht die einzigen, die regelmässig neue Höhen erklimmen. Mehrere Pflanzenarten tun das Gleiche als Reaktion auf den Klimawandel, da wärmere Temperaturen ihr Überleben bedrohen. Heute arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Umweltschutzorganisationen zusammen, um die Strategien dieser Arten besser zu verstehen und ihre Wanderungen vorherzusagen, damit die Artenvielfalt in der Schweiz geschützt werden kann.

Ein Forschungsteam, dem auch EPFL-Forschende angehören, begann 2013 mit der Untersuchung dieses Prozesses und kombinierte dabei geografische Informationssysteme mit molekularer Ökologie (Landschaftsgenomik). Ihre Ergebnisse, die in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift Evolutionary Applications veröffentlicht wurden, können zur Beantwortung einer Frage beitragen, die Biologinneen bisher Rätsel aufgegeben hat: In welchem Massstab wirkt die natürliche Selektion? Die Studie zeigt deutlich, dass die natürliche Auslese auf einer sehr lokal begrenzten Ebene wirkt und selbst innerhalb derselben Pflanzenart stark variieren kann. Das bedeutet, dass ein multiskaliger Rahmen unerlässlich ist, um effektive Beobachtungen darüber zu machen, wie der natürliche Ausleseprozess funktioniert.

Kartierung und Genomik

Für die Studie setzten die Forschenden Drohnen und ein auf einem Helikopter installiertes Light-Detection-and-Ranging-System (LiDAR) ein, um topografische Modelle von vier Tälern in den Waadtländer Alpen mit einer noch nie dagewesenen räumlichen Auflösung von 6 cm bis 32 m zu erstellen. Gleichzeitig sammelten sie an den vier Standorten Proben einer für das lokale Ökosystem repräsentativen Pflanze – der Alpen-Felsenkresse (Arabis alpina). Diese weiss blühende Pflanze wächst auf felsigen, sandigen Bergböden und in Felsspalten. Die Forschenden extrahierten das gesamte Genom der Pflanzen von jedem der vier Standorte, um Genotypvariationen zu ermitteln. Als sie die Ergebnisse mit den geografischen Daten kombinierten, entdeckten sie, dass das Genom der Art je nach den spezifischen Umweltbedingungen in den einzelnen Tälern (Sonneneinstrahlung, Feuchtigkeit, Lufttemperatur, Neigung und Ausrichtung der Oberfläche usw.) erheblich variierte. Mit anderen Worten: Sie sahen, wie die Pflanze als Reaktion auf ihren lokalen Lebensraum um ihr Überleben kämpft.

Ein multiskaliger Ansatz

Stéphane Joost, korrespondierender Autor und leitender Wissenschaftler der Geospatial Molecular Epidemiology Group (GEOME) am Labor für Biologische Geochemie (LGB) der EPFL, erklärt: «Lange Zeit wurden für diese Art von Studien topografische Modelle mit einer räumlichen Auflösung von nur 25 bis 50 m verwendet, die hauptsächlich vom Bundesamt für Landestopografie geliefert wurden. Jetzt sind wir zum ersten Mal in der Lage, Signaturen der natürlichen Selektion in der richtigen Grössenordnung zu erkennen».

Welche neuen Informationen ergeben sich daraus? Joost nennt das Beispiel eines Verteidigungsmechanismus, mit dem sich die Alpenkresse gegen pflanzenfressende Insekten wehrt. Diese Insekten befinden sich häufig unter den grossen Felsen, auf denen die Alpenkresse wächst. Um ihre Blätter zu schützen, produziert die Pflanze einen zuckerhaltigen Saft, der die Insekten abwehrt. «Wir haben einen signifikanten Zusammenhang zwischen einem Gen, das an diesem Abwehrmechanismus beteiligt ist, und einer Variablen gefunden, die die Oberflächenrauheit misst – allerdings nur, wenn die Variable mit einer räumlichen Auflösung von 2 m berechnet wird», sagt Joost. Seiner Meinung nach zeigt die Studie, wie wichtig es ist, multiskalige Analysen durchzuführen, um die gesamte Bandbreite lokaler Anpassungsstrategien zu ermitteln, die für das Überleben einer bestimmten Art entscheidend sind.

Die Studie unterstreicht auch einen weiteren wichtigen Punkt: Obwohl die an den vier Standorten gesammelten Proben der Alpenkresse das gleiche genetische Erbe haben, haben sie aufgrund der jüngeren Evolutionsgeschichte der Pflanze spezifische Überlebensstrategien für ihre lokalen Lebensräume entwickelt – selbst wenn die Lebensräume relativ nah beieinander liegen.

«Jetzt sind wir zum ersten Mal in der Lage, Signaturen der natürlichen Selektion in der richtigen Grössenordnung zu erkennen.»      Stéphane Joost, leitender Wissenschaftler bei GEOME, EPFL

Schutz mit Prognosemodellen

Die vom Forschungsteam entwickelten Computermodelle können ein wertvoller Verbündeter bei der Reaktion auf die globale Erwärmung sein. Sie können Karten erstellen, aus denen hervorgeht, wie sich eine Region im Laufe der Zeit verändern wird. Sie zeigen zum Beispiel, welche Gebiete in 50 Jahren das günstigste Klima für die Alpenkresse haben werden. Die Karten können den Forschenden auch dabei helfen, den «genetischen Versatz» einer Art zu verstehen, d. h. das Ausmass, in dem sie sich anpassen muss, wenn sie nicht entweder auf natürlichem oder künstlichem Wege auswandert.

Der in Evolutionary Applications erschienene Artikel stellt die Ergebnisse einer vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanzierten Langzeitstudie vor, die von der EPFL in Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), der Universität Neuenburg, der Universität Freiburg und der Hochschule für Technik und Wirtschaft HEIG-VD durchgeführt wurde. Der Artikel stützt sich auch auf die Doktorarbeit von Annie Guillaume, der Hauptautorin, die während ihres Studiums bei GEOME durchgeführt wurde.

Annie Guillaume bei Feldversuchen, September 2022. © GEOME 2024 EPFL

Europäisches Treffen für Erhaltungsgenetik in Lausanne

Die Art der Computermodellierung, die in dieser Studie durchgeführt wird, ist ein wertvolles Instrument in der naturschutzgenetischen Forschung und hilft den Forschenden, die wirksamsten Massnahmen zum Schutz der Artenvielfalt einer Region zu ermitteln. Um die Bemühungen in diesem Bereich zu unterstützen, werden drei lokale Naturschutzorganisationen – das Naturéum Lausanne, das Naturhistorische Museum Genf und das Konservatorium und der Botanische Garten Genf – zusammen mit den Universitäten Lausanne und Genf das diesjährige European Conservation Genetics Meeting ausrichten. Die Veranstaltung findet vom 28. bis 30. August 2024 in Lausanne statt.

6. Europäisches Treffen für Naturschutzgenetik 2024: Wie kann die Forschung eine pragmatische Naturschutzpolitik unterstützen? Palais de Rumine, Lausanne, Schweiz, 28-30 August 2024.