Neue Theorie hilft, Ökosysteme zu schützen
Bereits seit Jahren beobachten Forschende, dass aquatische und terrestrische Ökosysteme und ihre Artengemeinschaften unterschiedlich auf vom Menschen verursachte Veränderungen reagieren können. Während beispielsweise einige Ökosysteme sehr empfindlich auf die Klimaerwärmung reagieren, wie z. B. Pflanzengemeinschaften auf Berggipfeln, sind andere weniger betroffen. Wie lassen sich diese Unterschiede erklären? Eine grosse Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Forschungsinstitute WSL und Eawag hat im Rahmen der Forschungsinitiative «Blue-Green Biodiversity» (BGB) nun ein Instrumentarium zur Verfügung gestellt, mit dem sich die unterschiedlichen Reaktionen von Ökosystemen auf menschliche Einflüsse erklären lassen. Die Studie, die sich auf Land- sowie Süsswassersysteme wie Seen, Flüsse und Bäche konzentriert, wurde kürzlich in der wissenschaftlichen Zeitschrift Ecology Letters veröffentlicht.
«Nach der Theorie ökologischer Gemeinschaften gibt es vier grundlegende Prozesse, die die Artenvielfalt an einem Ort gestalten: Ausbreitung, Artbildung, Selektion auf Artniveau und ökologische Drift», sagt Ian MacFadden, Postdoktorand in der BGB-Forschungsinitiative und einer der zwei Hauptautoren der Studie. Ein wichtiger Schwerpunkt der BGB-Studie war eine umfassende Literaturrecherche, ob sich diese vier Prozesse in ihrer relativen Bedeutung in Land- und Süsswasserökosystemen unterscheiden. «Wenn wir verstehen, welche Rolle diese Prozesse in blauen und grünen Ökosystemen spielen und wie menschliche Einflüsse wie der Klimawandel oder die Landnutzung sie beeinflussen, hilft uns das zu erklären, warum diese Systeme so unterschiedlich reagieren können», sagt McFadden. Aufgrund der zusammengetragenen Erkenntnisse schlagen die Forschenden einen neuen integrativen Ansatz vor, der menschliche Einflüsse mit den vier ökologischen Prozessen verknüpft.
Prozesse, die die Artenvielfalt an einem Ort gestalten
- Ausbreitung: Wenn neue Arten aus anderen Regionen einwandern oder ihre Heimatregion verlassen.
- Artbildung: Wenn sich eine Art in mehrere neue Arten aufspaltet, entweder innerhalb eines einzigen Standorts oder über mehrere Standorte hinweg, weil die Populationen aufgrund einer geografischen Barriere getrennt werden.
- Selektion auf Artniveau: Innerhalb einer Gemeinschaft sind einige Arten besser an die lokalen Bedingungen angepasst als andere. Die Populationen der besser angepassten Arten werden tendenziell grösser, d. h. sie werden selektiert, während die Populationen der weniger gut angepassten Arten kleiner werden.
- Ökologische Drift: Bei kleinen Populationen können zufällige Geburten und Todesfälle zu stochastischen Veränderungen in der Häufigkeit der Arten, auch bekannt als Drift, und sogar zum Aussterben von Arten führen.
Anmerkung: Diese vier Prozesse wurden ursprünglich von Vellend (2010, 2016) als Theorie der ökologischen Gemeinschaften vorgeschlagen. Selektion und Drift beziehen sich hier auf ökologische Prozesse in Gemeinschaften und nicht auf Veränderungen der Allelfrequenzen wie in genetischen Studien über natürliche Selektion und genetische Drift.
Referenzen
- Vellend, Mark. "Conceptual synthesis in community ecology." 2010. The Quarterly Review of Biology. 85.2: 183-206. https://doi.org/10.1086/652373
- Vellend, Mark. "The theory of ecological communities." 2016. Monographs in Population Biology 57. Princeton University Press.
Süsswasserbewohner empfindlicher gegenüber Veränderungen des Lebensraums
Ein wichtiger Prozess, der die Biodiversität an einem Ort gestaltet, ist die Ausbreitung: Neue Arten wandern ein, andere Arten wandern aus ihrem angestammten Gebiet aus. Es ist ein stetes Kommen und Gehen. In ihrer Studie kommen die Forschenden zum Schluss, dass sich Landorganismen leichter ausbreiten als Süsswasserorganismen. Landökosysteme sind in der Regel gut vernetzt, sodass Landbewohner relativ frei zu neuen Standorten wandern können. Für Süsswasserbewohner ist es hingegen schwieriger, in neue Lebensräume vorzudringen, da ihre Lebensräume weniger gut miteinander verbunden sind.
Wenn der Mensch nun Barrieren in Gewässern errichtet, zum Beispiel Wasserkraftwerke, werden Süsswassergemeinschaften in ihrer Fähigkeit, sich an Umweltveränderungen anzupassen, weiter eingeschränkt. So können beispielsweise neue geeignete Lebensräume schwer zugänglich oder sogar unerreichbar werden. An Land lassen sich neue Hindernisse aufgrund der insgesamt besseren Vernetzung möglicherweise etwas leichter überwinden oder umgehen. Die Forschenden gehen daher davon aus, dass Süsswasserökosysteme empfindlicher auf physische Veränderungen ihres Lebensraums reagieren als Landökosysteme. Dennoch bleiben auch die Landbewohner nicht unbeeinflusst. Menschliche Eingriffe in die Landschaft, wie etwa Strassen oder Zäune, können insbesondere für Säugetiere zu unüberwindbaren Hindernissen werden und die biologische Vielfalt auch an Land bedrohen.
Landbewohner vermutlich empfindlicher gegenüber Klimaerwärmung
Obwohl Süsswasserbewohner sehr empfindlich auf Veränderungen in ihrem Lebensraum reagieren, sind sie von der Klimaerwärmung möglicherweise weniger betroffen als Landbewohner (siehe Abbildung). Süsswasserökosysteme könnten zum Beispiel davon profitieren, dass sich Wasser aufgrund seiner hohen Wärmekapazität langsamer erwärmt als Land. Auch dämpft Wasser kurzfristige Hitzewellen, insbesondere in tiefen Seen, während sich die Hitze an Land voll entfalten kann. Das Wasser könnte also als Puffer gegen steigende Temperaturen wirken und den Süsswasserbewohnern einen gewissen Schutz bieten, vor allem in tiefen Gewässern.
Im Gegensatz dazu könnten terrestrische Arten der Klimaerwärmung stärker ausgesetzt sein. Immer häufiger fehlen ihnen zudem aufgrund der veränderten Landnutzung schattige, kühle Rückzugsräume wie Wälder. Der integrative Ansatz der Forschenden deutet daher darauf hin, dass terrestrische Arten unter einem grösseren Druck stehen könnten, sich rasch an höhere Temperaturen anzupassen. Im Extremfall könnte dieser Selektionsdruck zum Aussterben von Arten führen.
Ein Weg in die Zukunft
Die Forschenden hoffen, dass der vorgeschlagene integrative Ansatz Fachleuten aus der Naturschutzpraxis und politischen Entscheidungsträgern neue Instrumente für den Biodiversitätsschutz an die Hand gibt. «Um die biologische Vielfalt zu erhalten, ist es wichtig zu wissen, welche Prozesse zu einem bestimmten Zeitpunkt am einflussreichsten sind, denn nur dann können Massnahmen gezielt eingesetzt werden», sagt Agnieszka Sendek, die zweite Hauptautorin der Studie. Wenn Ökosysteme beispielsweise stark von der ökologischen Drift beeinflusst werden, also wenn die Populationen rasch schrumpfen, könnte das vorrangige Ziel sein, die Populationsgrössen zu schützen und grossflächige Lebensräume zu erhalten. Wenn jedoch menschliche Aktivitäten in erster Linie die Ausbreitung einschränken, sollten Massnahmen ergriffen werden, um die verbleibenden Lebensräume besser miteinander zu vernetzen. Wenn die Erwärmung das Hauptproblem ist, könnte das Ziel sein, schattige, kühle Lebensräume zu schaffen, die Tieren und Pflanzen Zuflucht bieten.