Vereinbarkeit von Wasserkraft und Biodiversität fördern
Speicherkraftwerke gewinnen angesichts der Energiewende zunehmend an Bedeutung, da sie die stark schwankende Stromproduktion aus anderen erneuerbaren Energiequellen wie Sonne und Wind ausgleichen können. Die Nachfrage nach flexibler Stromproduktion wächst stark, gemäss Prognosen der EU um bis das Neunfache bis 2050. Damit leistet die Wasserkraft einen Beitrag zur klimafreundlichen Energiegewinnung. Sie setzt aber gleichzeitig die Biodiversität unter Druck.
Das häufige Ein- und Abschalten der Turbinen führt in den Fliessgewässern unterhalb der Speicherkraftwerke zu ausgeprägten Abflussschwankungen, dem sogenannten Schwall-Sunk. Dieser stellt einen erheblichen Eingriff in das Ökosystem dar: Bei Sunk können ufernahe Lebensräume innerhalb kurzer Zeit trockenfallen, sodass die dort vorkommenden Fische, Wasserinsekten und anderen Gewässerlebewesen stranden und sterben. Bei Schwall wiederum verändert die starke Strömung nicht nur das vielfältige Mosaik an Lebensräumen, sondern reisst zugleich Tiere und Pflanzen mit sich fort. Sowohl die Individuenzahl als auch die Artenvielfalt nehmen drastisch ab. Damit zeigt sich eine zentrale Herausforderung der Energiewende: die Vereinbarkeit von klimafreundlicher Stromproduktion und wirksamem Biodiversitätsschutz.
Bisher vernachlässigt: Die Häufigkeit von Schwall-Sunk-Ereignissen
Seit Jahren untersucht die Forschung, wie einzelne Schwall-Sunk-Ereignisse die Ökosysteme von Fliessgewässern beeinflussen und wie sich negative Auswirkungen mindern lassen. Entsprechende bauliche und betriebliche Lösungen sind bereits in Umsetzung (siehe Box). Ein bisher unterschätzter Aspekt ist jedoch die ausgeprägte Häufigkeit der künstlichen Abflussschwankungen. Während Fliessgewässer mit natürlichem Abflussregime durchschnittlich nur alle zwei bis elf Tage eine grössere Abflussschwankung verzeichnen, treten sie bei Schwall-Sunk häufig drei- bis viermal pro Tag auf.Gesetzliche Rahmenbedingungen und Bedeutung der Sanierung Schwall-Sunk
Das Schweizer Gewässerschutzgesetz verpflichtet Betreiber von Wasserkraftwerken mit Schwall-Sunk Betrieb, den Abfluss so zu gestalten, dass Lebensräume und deren typische Arten möglichst wenig beeinträchtigt werden. Ziel ist es, die wesentlichen negativen ökologischen Auswirkungen im Rahmen der Verhältnismässigkeit bis 2030 zu sanieren. Auch neu konzessionierte Kraftwerke müssen diesen Anforderungen entsprechen. Sanierungsmassnahmen – dazu zählen auch die Wiederherstellung der Fischgängigkeit und Massnahmen für einen möglichst naturnahen Geschiebehaushalt – spielen eine zentrale Rolle, um die Biodiversität in Fliessgewässern zu schützen.
Derzeit konzentriert sich die Schwall-Sunk-Sanierung hauptsächlich auf die Regulierung einzelner Ereignisse, beispielsweise mit dem Bau von Kompensationsbecken. Dabei liegt der Schwerpunkt vorwiegend auf der Reduktion von Pegelanstiegs- und Pegelrückgangsrate. Alternativ sind betriebliche Massnahmen oder die direkte Einleitung in ein grösseres Gewässer, zum Beispiel in einen See, denkbar. Für letzteres wird die Schwall-Sunk-Strecke in eine Restwasserstrecke mit konstantem Abfluss umgewandelt.
Kumulativer Effekt: Mehr als die Summe einzelner Ereignisse
Forschende des Wasserforschungsinstituts Eawag haben deswegen gemeinsam mit Partnern von der ETH Zürich, dem INRAE in Lyon, der ZHAW und der BOKU Wien untersucht, wie mehrere, dicht aufeinander folgende Schwall-Sunk-Ereignisse die Lebensraumdynamik in Fliessgewässern beeinflussen. «Unsere Studien zeigen, dass wiederkehrender Schwall-Sunk die Dynamik der Lebensräume, also ihre zeitliche und räumliche Verteilung, um das 26- bis 75-fache gegenüber dem natürlichen Abflussregime erhöht», sagt Nico Bätz, Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Flussrevitalisierung der Eawag. Die ständigen Abflussschwankungen verändern die Verfügbarkeit, Beständigkeit und Vernetzung wichtiger Lebensräume innerhalb eines Fliessgewässerabschnitts, etwa von Laichgruben oder Rückzugsgebieten für Fische und Wasserinsekten. Ein einzelnes Ereignis kann das Ökosystem meist gut verkraften. Doch die permanente Veränderung der Lebensräume führt zu Stress und erhöht die Mortalität vieler Arten.
«Ein eindrückliches Beispiel für die tiefgreifenden Auswirkungen wiederkehrender Ereignisse sind die neuen Ergebnisse zum Stranden von Jungfischen der BOKU Wien, die wir erst kürzlich gemeinsam publiziert haben», fügt Nico Bätz an. Ein einmaliger Sunk stellt meistens keine grosse Gefahr dar; der Fischbestand kann sich in der Regel regenerieren. Wenn die Lebensräume von Jungfischen jedoch mehrmals täglich trockenfallen, kann dies den Bestand innerhalb kurzer Zeit erheblich reduzieren. Feldstudien zeigen, dass die Häufigkeit täglicher Schwall-Sunk-Ereignisse einen starken Einfluss auf die Dichte von Jungfischen hat.
In Flussabschnitten in Österreich mit weniger als einem Schwall-Sunk-Ereignis pro Tag war die Dichte junger Bachforellen im Durchschnitt 2.3-mal höher, die der jungen Äschen sogar 18-mal höher als in Flussabschnitten mit häufigeren Abflussschwankungen. Auch Computersimulationen von Schwall-Sunk deuten darauf hin, dass wiederholte Abflussschwankungen je nach Frequenz bereits nach wenigen Tagen bis Monaten deutliche Auswirkungen auf die Jungfischpopulation haben können, selbst wenn der Abfluss langsam abgesenkt wird – eine gängige Sanierungspraxis. «Unsere Forschung zeigt deutlich, dass die kumulative Auswirkung mehrerer Schwall-Sunk-Ereignisse auf das Ökosystem grösser ist als die Summe einzelner Ereignisse», fasst Nico Bätz zusammen.
Neue Ansätze zur Quantifizierung der Auswirkungen wiederkehrendem Schwall-Sunk
Um die Folgen wiederkehrenden Schwall-Sunks auf die Lebensraumdynamik besser zu verstehen und zu quantifizieren, haben die Forschenden drei neue Messgrössen entwickelt.
Lebensraum-Wahrscheinlichkeit: Die Messgrösse gibt den Anteil der Verfügbarkeit der betrachteten Lebensraumtypen an, wie seichtes Wasser oder Bereiche mit geringer Fliessgeschwindigkeit verfügbar sind. Die über die Zeit integrierte Messgrösse ermittelt die dominanten Lebensraumbedingungen, welchen die Organismen aufgrund der Abflussschwankungen ausgesetzt sind.
Veränderungen der Lebensraumtypen: Diese Messgrösse gibt an, wie oft Lebensraumtypen an einem Standort wechseln. Die Häufigkeit der Veränderungen der Lebensraumbedingungen ist von besonderer Bedeutung für Organismen mit eingeschränkter Mobilität, wie Pflanzen und die meisten Wasserinsekten, die ihren Lebensraum nicht bzw. nur langsam wechseln können. Häufige Veränderungen der Lebensraumbedingungen können diese Organismen stark beeinträchtigen und ihre Überlebensfähigkeit reduzieren.
Räumliche Verschiebung von Lebensräumen: Diese Messgrösse gibt an, wie weit sich Lebensraumtypen über die Zeit räumlich verschieben. Sie ist von besonderer Bedeutung für mobile Organismen wie erwachsene Fische, die aufgrund der Abflussschwankungen den Standort wechseln müssen, um geeigneten Lebensraum zu finden. Häufige Standortverschiebungen erhöhen das Strandungsrisiko, belasten aber auch den Energiehaushalt mobiler Organismen und können langfristig ihre Überlebensfähigkeit beeinträchtigen.
Wasserkraftnutzung möglichst gewässerfreundlich gestalten
Um die langfristige Widerstandskraft und Artenvielfalt unserer Fliessgewässer zu erhalten, sollte das Wasserkraftmanagement nicht nur die Folgen einzelner Schwall-Sunk-Ereignisse, sondern auch deren kumulativen Folgen berücksichtigen. Eine stärkere Einbindung dieses Aspektes kann dazu beitragen, potenzielle Auswirkungen der Speicherkraftwerke auf die Biodiversität besser zu berücksichtigen. «Unsere Messgrössen können bestehende Ansätze wie die Vollzugshilfe Schwall-Sunk des Bundesamts für Umwelt BAFU ergänzen, um die Balance zwischen der Wasserkraft als Rückgrat der Energiewende und dem Biodiversitätsschutz zu gewährleisten», sagt Nico Bätz. Die Forschenden empfehlen daher, die Frequenz von Abflussschwankungen durch Schwall-Sunk explizit ins Wasserkraftmanagement einzubeziehen. Vorschläge, wie dies bei der Sanierung, dem Aus- und Neubau sowie bei Neukonzessionierungen berücksichtigt werden kann, sind in Arbeit.