Miniorgane mit grossem Potenzial
Die Zellklümpchen sind einige Millimeter bis wenige Zentimeter klein. Doch in der Medizinforschung können sie Grosses bewegen. Die ETH-Professorin Barbara Treutlein arbeitet mit solchen Organoiden. Diese organähnlichen Systeme sind die dreidimensionale Weiterentwicklung von Zellkulturen und bestehen aus unterschiedlichen Zelltypen in komplexen Gewebestrukturen. In Treutleins Labor stammen alle Organoide von menschlichem Gewebe ab. «Mit diesen Organoiden arbeiten wir an verschiedenen medizinischen Fragestellungen», sagt Barbara Treutlein, Professorin für Quantitative Entwicklungsbiologie. Zum Beispiel an möglichen Ursachen einer Autismus-Spektrum-Störung.
Aus Patientendaten ist bekannt, welche Gene mit Autismus in Verbindung stehen. Um ihren Einfluss auf die Entwicklung des Gehirns zu untersuchen, haben die Forschenden aus Stammzellen ein Hirn-Organoid aus Nervenzellen wachsen lassen. Mithilfe der Genschere Crispr/Cas haben sie in diesem Organoid gewisse Gene gezielt ausgeschaltet. Dieses Experiment haben Kolleg:innen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften durchgeführt. Treutleins Forschungsgruppe hat im Anschluss die riesige Datenmenge der Einzelzellanalyse mit modernsten Bioinformatik-Methoden ausgewertet. «So konnten wir am Ende herausfinden, was dieses Ausschalten der Gene bewirkt hat. Gibt es Mechanismen, die allen Genen übergeordnet sind? Gibt es genspezifische Mechanismen?», führt Treutlein aus. «Mit diesem Ansatz können wir versuchen, eine Krankheit besser zu verstehen.» So fanden die Forschenden heraus, welche Gennetzwerke in welchen Zelltypen des Gehirns für die Entwicklung von Autismus verantwortlich sind.
Neben ihrer Arbeit zu Unregelmässigkeiten in der Gehirnentwicklung arbeitet Treutleins Labor auch am Humanen Zellatlas mit. Das ist ein Referenzatlas, der dereinst alle Zelltypen des menschlichen Körpers während der Entwicklung und im Erwachsenenalter beschreiben soll. Forschende rund um den Globus arbeiten unermüdlich daran. Treutleins Forschungsgruppe steuert vor allem Daten zur Charakterisierung von Zellen des Nervensystems bei. Bei den Experimenten analysieren die Forschenden pro Zelle mehr als 20000 Gene und dies bei Tausenden von Zellen. Um die Unmengen an Daten zu bewältigen, arbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit maschinellem Lernen. «Die Algorithmen erkennen Muster im Datenmeer», sagt Treutlein. Die so gewonnenen Daten fliessen in den Referenzatlas ein und können von Forschenden weltweit für ihre Experimente herbeigezogen werden.
Mit Zellen von Patient:innen
Ein Teil der Organoide in Treutleins Labor stammt von embryonalen Stammzellen ab, die seit Jahrzehnten international als Zelllinien gehalten werden. Weil diese ganz am Anfang der menschlichen Entwicklung stehen, lassen sie sich – abhängig von der Umgebung – zu allen Zelltypen entwickeln und damit zu jedem Organoid.
Die Forschungsgruppe generiert aber auch selber Stammzellen aus adultem Gewebe. Diese induzierten Stammzellen stammen von Körperzellen ab, also zum Beispiel von Hautzellen oder weissen Blutkörperchen. Mit entsprechenden Faktoren, die in die Zellen geschleust werden, wandeln sich diese Körperzellen in Stammzellen zurück, aus denen ein neues Organoid entstehen kann. «Das Spannende an diesem Ansatz ist, dass wir Zellen von Patientinnen und Patienten isolieren können, daraus Stammzellen gewinnen und schliesslich ein Organoid generieren können», sagt Treutlein. «Dies widerspiegelt die Organentwicklung jedes einzelnen Patienten.» So können die Forschenden die Entstehung von Krankheiten in der Petrischale nachahmen und versuchen, mechanistisch zu verstehen.
Eine solche Krankheit, die im Moment eine Doktorandin aus Treutleins Forschungsgruppe untersucht, ist die periventrikuläre Heterotopie. Bei dieser Krankheit des Grosshirns verfehlen die Nervenzellen während der Entwicklung den richtigen Weg. Epilepsie kann eine Folge davon sein. Bekannt ist, dass 21 Gene involviert sind. Wenn die Wissenschaftlerinnen diese Gene im Hirn-Organoid ausschalten, kommt es zu einem Ungleichgewicht der verschiedenen Zelltypen. Noch sind dies die vorläufigen Erkenntnisse erster Experimente. «Wenn wir die Mechanismen aber besser verstehen, kann dies die Grundlage für die Entwicklung von Therapien sein», sagt Treutlein.
Mehr als ein Zelltyp
Kaum eine Behandlungsmöglichkeit gibt es heute gegen bestimmte Arten von Bauchspeicheldrüsenkrebs. In einem gemeinsamen Projekt mit dem Institute of Human Biology (IHB) von Roche mit Sitz in Basel arbeitet die ETH-Professorin an Organoiden, die auf Krebszellen basieren, die bei Patientinnen und Patienten bei einer Biopsie gewonnen wurden. Mit diesen sogenannten Tumoroiden können die Forschenden eine Reihe an Medikamenten und ihre Wirkung testen. Bei Bauchspeicheldrüsenkrebs geht es darum, überhaupt eine Behandlungsmöglichkeit zu finden. Bei anderen Krebsarten steht die personalisierte Medizin im Zentrum: Welches Medikament wirkt bei diesem Individuum am effizientesten, um die Krebszellen abzutöten? Bei einem solchen Drug Screening werden aus einer Biopsie mehrere Tumoroide hergestellt, um an ihnen verschiedene Medikamente testen zu können.
Gemeinsam für die nächste Generation Biomediziner:innen
Die ETH Zürich hat gemeinsam mit Roche zwei neue Forschungs- und Ausbildungsprogramme lanciert. Im Fokus stehen Entwicklung und Anwendung von neuen Methoden des Bioengineering sowie von neuartigen zellulären und genetischen Modellsystemen des Menschen. Geplant ist, verteilt über eine Laufzeit von drei bis vier Jahren, bis zu je zwanzig Doktorierende und Postdoktorierende in die Programme aufzunehmen. Die Zusammenarbeit findet schwerpunktmässig am Standort Basel statt. Dort befinden sich das Departement Biosysteme der ETH Zürich, der Bereich Pharma Research and Early Development von Roche sowie dessen Institute of Human Biology.
Das Besondere an den Tumoroiden, mit denen Treutlein und das IHB von Roche arbeiten, ist die Zusammensetzung: Sie enthalten nicht nur Krebszellen. Das IHB hat ein Tumoroidmodell entwickelt, das aus drei verschiedenen Zelltypen besteht. Neben den Krebszellen enthält es auch Bindegewebszellen und Endothelzellen. «Die Experimente zeigen, dass dieses komplexe Tumoroid ganz anders auf Medikamente reagiert als ein traditionelles Tumoroid, bei dem die Krebszellen allein kultiviert werden», sagt Treutlein. Der nächste Schritt ist nun, das komplexe Tumoroid zusätzlich mit Immunzellen anzureichern.
Treutleins Forschungsgruppe hat die einzelnen Zellen der Tumoroide analysiert. Im Gegensatz zur Analyse mit dem Mikroskop, die die pauschale Aussage erlaubt, ob Krebsgewebe abstirbt oder nicht, erlaubt Treutleins Einzelzelltechnologie eine viel genauere Aussage. «Organoide sind komplexe Strukturen», sagt die Chemikerin. «Deshalb ist es wichtig, sie detailliert zu analysieren.» Die Analyse von Genen und Proteinen auf Ebene von einzelnen Zellen erlaubt den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern abzulesen, wie effizient eine Krebsbehandlung im Tumoroid anschlägt.
«Dieses Projekt zeigt exemplarisch, wie wertvoll die Zusammenarbeit mit dem IHB von Roche für uns ist», sagt Treutlein. Dem stimmt auch Matthias Lütolf, Direktor des IHB und Professor für Bioengineering an der ETH Lausanne, zu: «Als eine der weltweit führenden Hochschulen ist die ETH Zürich eine ideale Partnerin für das IHB. Die Qualität der Doktorierenden und Forschenden an der ETH spricht für sich und ist für den Erfolg der gemeinsamen Forschungsaktivitäten entscheidend.» Für Barbara Treutlein macht vor allem die unterschiedliche Ausrichtung von Hochschule und Pharmaindustrie den Erfolg aus. «Wir als Universität können eher langfristige und damit auch risikoreiche Projekte eingehen. An der Industrie schätzen wir den Praxisbezug mit seinen möglichen Anwendungen.»
In der Lehre haben die ETH Zürich und Roche ein gemeinsames Doktorandenprogramm lanciert. In Treutleins Labor wird bald ein Doktorand vom IHB arbeiten. Dass die ETH Zürich mit ihrem Departement Biosysteme in Basel vor Ort zu Hause ist, schätzen beide Forschenden als grossen Vorteil ein. «Unsere gemeinsamen Studierenden sollten freien Zugang zu den Labors beider Partner haben und in der Lage sein, in kürzester Zeit von einer Einrichtung zur anderen zu wechseln», sagt Lütolf. «Ich bin überzeugt, dass erfolgreiche Forschung einen persönlichen Austausch erfordert.»