Jonglieren mit der steten Veränderung
Maya setzt die Virtual-Reality-Brille auf und taucht in eine Landschaft ab, in der sich ein Dutzend Windräder drehen, um Strom zu erzeugen. Sobald sich Maya bewegt, erklingen die akustischen Informationen, die mit der Punktwolke verknüpft sind, und Maya hört die Geräusche der Rotoren, als ob sie sich tatsächlich in der Nähe befände. An ihrem Körper messen Sensoren den Herzschlag und die Hautleitfähigkeit, um Mayas Erregung aufzuzeichnen. «Im Audio Visual Lab untersuchen wir, wie Menschen Veränderungen in der Landschaft wahrnehmen», erklärt Adrienne Grêt-Regamey, Professorin für Landschafts- und Umweltplanung.
Dabei spielt die eigene Biografie oft eine Rolle: «In unseren Studien zeigen viele Personen negative Emotionen, wenn sie solche Eingriffe in die Landschaft sehen. Diese negativen Emotionen werden gedämpft, wenn sie in ihrem Leben persönliche Erfahrungen mit einer solchen Infrastrukturlandschaft gemacht haben.» Die gleiche Untersuchungsmethode benutzt Grêt-Regamey auch im ERC-Projekt «GLOBESCAPE», in dem sie unser Verhältnis zum periurbanen Raum – der Übergangszone von Stadt und Land – studiert. Interessanterweise zeigen Menschen bei der Konfrontation mit den uniformen periurbanen Räumen eine messbare physiologische Reaktion mit geringerem Stressreduktionspotenzial als in anderen Räumen. Selbst in verdichteten Räumen wie einem Dorfplatz kann das Stressreduktionspotenzial höher sein. Ein Problem sieht Grêt-Regamey im mangelnden Engagement der Bewohner: «Oft haben wir niemanden, der sich wirklich für die Gestaltung eines periurbanen Ortes einsetzt. Bodenpreise und wirtschaftliche Interessen bestimmen das Bild», führt Grêt-Regamey aus.
Die Professorin möchte in ihrer Studie herausfinden, welche Elemente eine Agglomeration zur Verfügung stellen muss, damit die Bewohner eine Verbundenheit zum Ort entwickeln können und sich dadurch aktiv an der Veränderung der Landschaft beteiligen. Genau dies würde nämlich eine Kulturlandschaft ausmachen, die sich als Gebiet definiert, das von Menschen wahrgenommen wird und dessen Charakter aus der Aktion und Interaktion von natürlichen und menschlichen Faktoren entsteht.
Nachhaltigkeit ist kein Gleichgewicht
Wie also können wir Landschaften schaffen, die längerfristig im Zusammenspiel mit Natur und Mensch funktionieren? Grêt-Regameys Stichwort heisst sozioökologische Dynamik: Ihre Vision ist eine Landschaft, in der biophysikalische und soziale Faktoren so zusammenwirken, dass sich die Landschaft unter veränderten Bedingungen resilient zeigt und ihre Leistungen nachhaltig erbringen kann. «Dabei geht es immer um die Aushandlung und Abwägung von unterschiedlichen Nutzungen», erklärt die Wissenschaftlerin. In ihrer Forschung benutzt sie daher das Konzept der Ökosystemleistungen, die jeweils an bestimmte Akteure geknüpft sind. So kann sie in einem kollaborativen und iterativen Prozess mit den Akteuren die benötigten Nutzungen aushandeln.
Im Projekt ValPar.CH, in dem Grêt-Regamey den Wert der ökologischen Infrastruktur von Schweizer Pärken evaluiert, hat sie dafür zu kreativen Mitteln gegriffen. Mit Hilfe eines Illustrators und eines Moderators haben sich je fünf bis sechs Akteure der Parks auf eine Zukunftsvision geeinigt, die jeweils vom Zeichner illustriert wurden. Daraus extrahieren die Forschenden diejenigen Elemente der Landschaft, die Ökosystemleistungen erbringen oder zur Biodiversität beitragen und evaluieren, welche Wege zum gewünschten Ergebnis führen könnten. Grêt-Regamey möchte aber noch einen Schritt weitergehen: «Wir müssen uns fragen, wie wir – insbesondere in bebauten Gebieten – neue Räume schaffen können, die dynamisch resilient sind.»
Der Garten des 21. Jahrhunderts
An der Entwicklung eines solchen menschengemachten Ökosystems – dem Garten des 21. Jahrhunderts – arbeiten zurzeit die Landschaftsarchitektin und Agronomin Teresa Galí-Izard und ihr Team am «Chair of Being Alive». Seit 2020 ist die Katalanin Professorin im neuen ETH-Masterstudiengang Landschaftsarchitektur. «Ich arbeite an einer komplexen produktiven Landschaft, die zwar weniger produktiv ist als eine Monokultur, sich jedoch durch das Zusammenspiel der unterschiedlichen Faktoren regeneriert», so Galí-Izard. Dieses System testet sie in Spanien, in Santiago de Chile und zukünftig auch in der Schweiz. Die Basis bildet eine Herde von etwa 20 Pferden, die jeden Tag ihren Weideort wechselt. Je nach Klima dauert es 60 bis 90 Tage, bis die Pferde eine Rotation über die Felder beendet haben und wieder am Ursprungsort landen. Mit ihren Ausscheidungen düngen sie die Erde, damit diese alle vier Jahre für pflanzliche Nahrungsmittelproduktion verwendet werden kann. «Auch die Hecken, welche die Felder umgeben, produzieren Nahrung für den Menschen», stellt sich Galí-Izard vor. Sie möchte nun herausfinden, wie Elemente der regenerativen Landschaft auch in einer urbaneren Gegend gestaltet werden könnten – immer mit dem Ziel, degenerierte Orte lebendiger zu machen.
Dass wir unseren Planeten mit anderen Lebewesen, auch den Pflanzen, teilen müssen, ist der Professorin wichtigster Grundsatz. Und darin sieht sie auch die grösste Hürde: «Wir sind nicht mehr häufig genug anderen lebenden Kreaturen ausgesetzt, was zu einer grossen Wissenslücke über unsere Umwelt führt.» Kinder, so Galí-Izard, sollten Zugang haben zu Orten, an denen sie die Jahreszeiten und die steten Veränderungen unserer Umwelt beobachten können. Dasselbe Prinzip wendet sie auch im Masterprogramm an: «Im ersten Jahr sollen die Studierenden viel beobachten und lernen, die Landschaft zu lesen, um darin eine neue Schönheit zu finden», führt Galí-Izard aus. Um die komplexen Zusammenhänge von Klima, Tieren, Pflanzen und Böden zu visualisieren, entwickelt die Professorin an ihrem Lehrstuhl eine zeichnerische Sprache, die auch von den Studierenden erlernt und verwendet wird. «Diese dynamischen Diagramme helfen uns, die Beziehungen zu verstehen, und unterstützen uns bei der Planung mit Lebewesen wie Bäumen», erklärt sie.
Der Mensch des 21. Jahrhunderts
Mit ihrem Büro Arquitectura agronomia lebt die Landschaftsarchitektin vor, wie eine solche zeitgemässe Planung aussehen könnte, die die Zyklen der Natur respektiert. In einem ihrer ersten Projekte – einem kleinen Privatgarten – praktizierte sie daher das Warten. Alle zwei bis drei Wochen entschied sie aufgrund der natürlichen Veränderungen, wie sie im Garten eingreifen möchte. «Selbstverständlich verändern Gärtner ‹künstlich› die Umgebung und führen beispielsweise Wasser zu, um eine neue Pflanzenart anzubauen. Wir müssen aber wissen, wo die Grenzen sind. Und wir müssen überlegen, wie wir mit dem Ort umgehen, von dem wir Wasser sammeln und ableiten», sagt Galí-Izard.
Mit der Fähigkeit, so stark in die Umwelt eingreifen zu können, wächst auch unsere Verantwortung, uns selbst Grenzen zu setzen. Bis wohin möchten wir gehen? Wie lange möchten wir eingreifen? Was brauchen wir wirklich? «Das ingenieurmässige Denken ist eine tolle Eigenschaft, aber die Technologie verleitet uns auch dazu, zu vergessen, uns selbst Grenzen zu setzen», meint Galí-Izard. Ob in der zukünftigen Landschaft Natur und Mensch zu ihrem Recht kommen, hängt in grossem Masse davon ab, ob der Mensch es schafft, sich selbst neu zu erziehen: Aushandeln, abwägen, entscheiden, verzichten und den anderen den Vortritt lassen könnten die Qualitäten des Menschen des 21. Jahrhunderts sein.
Dieser Text ist in der Ausgabe 21/02 des ETH-Magazins Globe erschienen.