Eisströme bewegen sich durch Beben

In einem der mächtigsten Eisströme Grönlands ereignen sich unzählige winzige Eisbeben, wie ein internationales Forschungsteam erstmals nachweisen konnte. Damit lässt sich das Fliessen des Eisschildes und die damit verknüpfte Veränderung des Meeresspiegels genauer abschätzen.
Das Camp der Forschenden auf dem nordostgrönländischen Eisstrom (NEGIS), rund 400 Kilometer von der Küste entfernt. (Bild: Lukasz Larsson Warzecha / LWimages)

In Kürze

  • Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung der ETH Zürich hat in Grönland entdeckt, dass sich tief im Inneren von Eisströmen unzählige winzige Eisbeben ereignen.
  • Diese Beben sind dafür verantwortlich, dass sich Eisströme auch durch ein stetes Ruckeln fortbewegen und nicht nur wie zäher Honig fliessen, wie bisher angenommen.
  • Die seismischen Daten aus dem Inneren des Eisstroms haben die Forschenden in einem 2700 Meter tiefen Bohrloch mithilfe eines Glasfaserkabels aufgezeichnet.

Die grossen Eisströme der Antarktis und Grönlands führen wie gefrorene Flüsse Eis von den mächtigen Binnen-Eisschilden ins Meer – und eine Änderung ihrer Dynamik trägt damit wesentlich zum Anstieg des Meeresspiegels bei. Um abzuschätzen, wie hoch dieser steigen wird, simulieren Klimaforschende solche Eisströme auf dem Computer. Dabei nahmen sie bisher an, dass die Eisströme zähflüssig wie dicker Honig langsam aber stetig ins Meer fliessen.

Doch Satellitenmessungen der Fliessgeschwindigkeit von Eisströmen zeigen, dass solche Simulationen ungenau sind und die Realität nicht korrekt wiedergeben. Die Schätzungen, wie viel Masse die Eisströme verlieren und wie schnell und hoch der Meeresspiegel ansteigt, sind deshalb mit grossen Unsicherheiten behaftet.

Eisströme ruckeln und fliessen

Jetzt hat ein Team von Forschenden unter der Federführung von ETH-Professor Andreas Fichtner eine unerwartete Entdeckung gemacht: Tief im Inneren der Eisströme ereignen sich unzählige schwache Beben, die sich gegenseitig auslösen und über hunderte Meter fortpflanzen. Durch diese Entdeckung lässt sich die Diskrepanz zwischen aktuellen Simulationen von Eisströmen und Satellitenmessungen erklären. Die neuen Erkenntnisse dürften sich zudem auf die Art und Weise auswirken, wie Eisströme künftig simuliert werden.

«Die Annahme, dass Eisströme ausschliesslich wie zäher Honig fliessen, ist nicht mehr haltbar. Sie bewegen sich auch durch ein stetes Ruckeln», sagt Fichtner. Der ETH-Professor ist davon überzeugt, dass diese Erkenntnis in die Simulationen von Eisströmen einfliessen und die Abschätzungen von Meeresspiegelveränderungen genauer machen wird.

Rätsel um Eiskerne gelöst

Darüber hinaus erklären die Eisbeben den Ursprung zahlreicher Bruchflächen zwischen Eiskristallen in Eiskernen aus grosser Tiefe. Diese Bruchflächen gehen auf tektonische Verschiebungen zurück und sind den Wissenschaftlern seit Jahrzehnten bekannt. Bis jetzt fanden sie aber keine Erklärung dafür.

«Dass wir diese Eisbeben nun entdeckt haben, ist ein wesentlicher Schritt, um die Deformation von Eisströmen auf kleinen Skalen besser zu verstehen», erklärt Olaf Eisen, Professor am Alfred-Wegener-Institut und einer der Ko-Autoren.

Die Studie des internationalen Forschungsteams unter der Leitung der ETH Zürich ist soeben in der Fachzeitschrift Science erschienen. Daran beteiligt sind auch Forschende des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), der Universität Strassburg, des Niels-Bohr-Instituts, der Eidgenössische Forschungsanstalt WSL und weiterer Universitäten.

Feuer und Eis hängen zusammen

An der Oberfläche sind diese Eisbeben allerdings nicht zu beobachten, weswegen sie bisher unentdeckt blieben. Der Grund dafür: Eine Schicht aus vulkanischen Partikeln befindet sich 900 Meter unter der Eisoberfläche und stoppt die Ausbreitung der Beben bis zur Oberfläche. Die Analyse des Eisbohrkerns zeigte, dass diese Partikel von einem massiven Ausbruch des Mount Mazama im heutigen Oregon (USA), vor 7700 Jahren, stammen. «Wir waren sehr erstaunt über den bisher unbekannten Zusammenhang zwischen der Dynamik eines Eisstroms und Vulkanausbrüchen», erinnert sich Fichtner.

Der ETH-Professor bemerkte zudem, dass die Eisbeben von Verunreinigungen im Eis ausgehen. Dabei handelt es sich ebenfalls um Hinterlassenschaften von Vulkanen: winzige Spuren von Sulfaten, die bei Vulkanausbrüchen in die Atmosphäre gelangten und um die halbe Welt flogen, bevor sie auf das grönländischen Eisschild geschneit wurden. Die Sulfate verringern die Stabilität des Eises und begünstigen, dass sich Mikrorisse bilden.

Ein 2700 Meter tiefes Bohrloch im Eis

Entdeckt haben die Forschenden die Eisbeben mithilfe eines Glasfaserkabels, das in einem 2700 Meter tiefen Eisbohrloch erstmals seismische Daten aus dem Inneren eines mächtigen Eisstroms aufgezeichnet hat. Das Loch ins Eis gebohrt haben Forschende des Niels-Bohr-Instituts und des Alfred-Wegener-Instituts. Daraus haben sie einen 2700 Meter langen Eisbohrkern geborgen. Nach Beendigung der Bohrarbeiten nutzten die Forschenden die Gelegenheit, um ein Glasfaserkabel 1500 Meter tief ins Bohrloch zu versenken und 14 Stunden lang ununterbrochen Signale aus dem Inneren des Eisstroms aufzuzeichnen.

Die Forschungsstation und das Bohrloch liegen auf dem Nordöstlichen Grönländischen Eisstrom (NEGIS), rund 400 Kilometer von der Küste entfernt. Der NEGIS ist der grösste Eisstrom des Grönländischen Eisschildes und sein Rückzug trägt zum gegenwärtigen Anstieg des Meeresspiegels bei (etwa 5 % des gesamten Meeresspiegelanstiegs). Das Eis bewegt sich im Bereich der Forschungsstation mit rund 50 Metern pro Jahr in Richtung Meer.

Da Eisbeben in den Messungen der Forschenden oft und räumlich weit verteilt auftreten, hält ETH-Forscher Fichtner es auch für plausibel, dass Eisbeben in Eisströmen überall und jederzeit auftreten. Um dies aber prüfen zu können, müssen solche seismischen Messungen auch in anderen Bohrlöchern durchgeführt werden. Dies ist bereits geplant.