«Ich mag keine Dogmen»
Nicola Aceto ist ein fröhlicher Mensch. Während er von seiner Forschung erzählt, lacht er oft und fühlt sich in seinem Büro sichtlich wohl, obwohl es noch fast leer ist. Darin stehen erst ein Schreibtisch mit zwei Bildschirmen, ein Sitzungstisch und ein leeres Regal. Ein wenig werde sich der Raum füllen, sagt der Biochemiker, der zurzeit von der Universität Basel an die ETH Zürich umzieht. Auf das Regal kommen Zeichnungen seiner beiden Kinder und Post- und Gratulationskarten von Kollegen. An die kahlen Wände will er als erstes zwei Bilder der Entdeckung hängen, der er seinen Erfolg verdankt: kolorierte Mikroskop-Aufnahmen von Zusammenschlüssen von Tumorzellen. Aus diesen wachsen bei Krebspatienten häufig Metastasen. Für die Entdeckung dieser Zell-Cluster und ihrer Bedeutung hat der ETH-Professor für Molekulare Onkologie zahlreiche Preise erhalten, darunter kürzlich den Schweizer Wissenschaftspreis Latsis, der ihm am 4. November dieses Jahres von Bundespräsident Guy Parmelin überreicht wird.
100 Jahre altes Wissen
Acetos Erfolgsgeschichte begann im Jahr 2014. Damals untersuchte er als junger Postdoktorand an der Harvard Medical School in Boston Blutproben von Krebspatienten und beobachtete darin erstmals Zusammenschlüsse aus vier oder fünf miteinander verbundenen Tumorzellen. Er beschloss, diese näher zu untersuchen. Das war nicht selbstverständlich, denn noch vor wenigen Jahren war die Krebsforschung der Auffassung, dass Metastasen aus einzelnen, zirkulierenden Krebszellen entstehen. Solche Zellen lösen sich vom ursprünglichen Tumor, dem sogenannten Primärtumor, ab und wandern durch die Blutbahn zu anderen Körperstellen, wo sie sich manchmal festsetzen, teilen und zu Metastasen heranwachsen. Da man dies schon wusste, waren die von Aceto gefundenen Zell-Cluster für eine Erklärung zur Bildung von Metastasen nicht nötig. Dennoch legte der Forscher seine Entdeckung nicht beiseite, sondern ging der Sache weiter nach.
Zunächst stellte er sicher, dass er nicht einen Einzelfall beobachtet hatte. Eine erste Bestätigung lieferten über 100 Jahre alte wissenschaftliche Publikationen, die in Blutgefäss-Schnitten gefundene Zellklumpen beschreiben. Diese nannten die Autoren «Mikroembolien» und sie vermuteten schon damals, dass ihr Fund mit der Bildung von Krebsmetastasen zusammenhängt. Doch solche Resultate liessen sich lange Zeit nicht verbessern, wegen der extremen Verdünnung von Krebszellen im Blut, wie Aceto veranschaulicht: «In zehn Millilitern Patientenblut schwimmen rund 50 Milliarden rote Blutkörperchen und 50 Millionen weisse Blutkörperchen – aber nur ganz wenige Tumorzellen.» Darum konnten Forschende erst mit dem Aufkommen von Mikrofluidik-Technologien, mit welchen sich sehr kleine Flüssigkeitsmengen verarbeiten und die seltenen Tumorzellen hochpräzise erfassen lassen, effizient Krebszellen in Blutproben aufspüren und untersuchen.
Gegen das Establishment
Mithilfe solcher Methoden analysierte Aceto Blutproben von hunderten Krebspatientinnen und -patienten und fand heraus: Bei Betroffenen, die solche Tumorzell-Cluster im Blut hatten, schritt der Krebs schneller voran als bei solchen, in deren Blutbahn nur einzelne Krebszellen zirkulierten. Ausserdem zeigte er in Versuchen mit Mäusen, dass aus solchen Zell-Clustern 50-mal häufiger Metastasen als aus einzelnen Tumorzellen wachsen.
Damit brach Aceto das vorherrschende Dogma auf, das einzelne Krebszellen als Keime für Metastasen gesehen hatte. Allerdings war die Veröffentlichung der für die Community überraschenden Resultate schwierig, der Begutachtungsprozess lang und aufwändig, erinnert sich Aceto. Stressig sei das für ihn nicht gewesen, sagt er und schmunzelt. Im Gegenteil, es habe ihm Spass gemacht. Zudem fanden die Begutachter kaum Fehler in seinen Daten. Die Arbeit wurde schliesslich anerkannt und im renommierten Journal Cell publiziert.
«Wir hatten etwas fundamental Neues entdeckt, das für Krebspatientinnen und -patienten sehr bedeutend sein könnte», sagt Aceto. Denn die meisten Erkrankten sterben nicht am Primärtumor, sondern an Metastasen. Über alle Krebsarten hinweg sind solche Tochtertumore für neun von zehn Todesfällen verantwortlich. «Die bisherigen Krebsmedikamente sind alle darauf ausgerichtet, Tumorzellen zu zerstören», sagt Aceto. Dies sei einer der Gründe dafür, weshalb Primärtumore in einigen Fällen erfolgreich bekämpft werden können. Doch solche Therapien vermögen oft nicht alle Zellen eines Tumors zu vernichten. So führt die Behandlung manchmal zu einer Auslese der widerstandsfähigsten Zellen, sodass der Krebs – mitunter Jahre später – in Form von Metastasen wiederaufleben kann.
Eine neue Art, Krebs zu behandeln
Mit der Entdeckung der Tumorzell-Cluster, hatte Aceto nun aber eine völlig neue Möglichkeit gefunden, die Bildung von Metastasen zu bekämpfen. Seine Idee besteht darin, die Zell-Cluster mit Medikamenten dazu zu bringen, in einzelne Zellen zu zerfallen und so zu verhindern, dass sich Metastasen bilden. «Eine solche Therapie könnte die klassischen Krebsmedikamente ergänzen», sagt Aceto.
Um die Grundlage für eine solche Therapie zu schaffen, untersuchte Aceto zunächst, welche molekularen Prozesse in den Zell-Clustern zur Bildung von Metastasen führen. Sein Team erkannte, dass sich die Zellen in einem solchen Cluster in mehreren Aspekten von einzelnen, zirkulierende Krebszellen unterscheiden: so teilen sich die in Clustern organisierten Krebszellen häufiger und zeigen Merkmale, die bisher mit Stammzellen in Verbindung gebracht wurden. «So können sich diese Zellen leichter in einer anderen Körperstelle einnisten und Metastasen bilden», erklärt Aceto. Zudem haben die Zell-Cluster einen mechanischen Vorteil: Im Gegensatz zu einzelnen Zellen bleiben die grösseren Zusammenschlüsse in den engen Kapillargefässen des Blutkreiskaufs gerne stecken. In solchen Engpässen richten sie sich dann quasi häuslich ein – und wachsen.
Unkonventionelles Vorgehen
Eine weitere Untersuchung seines Teams offenbarte, warum sich Zell-Cluster überhaupt vom Primärtumor ablösen. Sie verlassen nämlich spezifisch Tumorregionen, die schlecht von Blutgefässen mit Sauerstoff versorgt werden. «Hier wird es nun unkonventionell», sagt Aceto. Denn manche Krebsmedikamente zielen genau auf die Blutgefässe ab mit dem Ziel, die Sauerstoffversorgung des Tumors zu senken, um ihn so zu schwächen. Gemäss Acetos Resultaten könnte eine solche Therapie jedoch gleichzeitig die Ablösung von Zell-Clustern und damit die Bildung von Metastasen fördern.
Erneut kam Aceto also zu einem Ergebnis, das bisherige Auffassungen, sogar bisher angewandte Therapieformen anzweifelte. Während des Review-Prozesses der entsprechenden Veröffentlichung fiel denn auch das Verdikt «zu unkonventionell». Die Arbeit wurde inzwischen in der Fachzeitschrift Cell Reports statt im ursprünglich angestrebten Cell publiziert.
Warum nimmt Aceto solche Kontroversen immer wieder auf sich? «Ich mag keine Dogmen», sagt er. «Sie sind nicht hilfreich, sondern können dazu führen, dass man wichtige Dinge übersieht.» Dass er manchmal Kämpfe gegen vorherrschende falsche Vorstellungen führen muss, findet Aceto spannend. «Ich habe den schönsten Job der Welt», sagt er. Höchstens Fussball-Profi wäre er auch gerne geworden, ergänzt der Italiener mit einem Lächeln.
Start an der ETH Zürich
Seinen Ansatz will Aceto an der ETH weiterverfolgen. Seit Januar 2021 läuft der Umbau seines Labors auf dem Campus Hönggerberg auf Hochtouren. Neu ist etwa ein abgeschlossener Laborbereich mit strengen Hygiene- und Sicherheitsvorschriften, in dem in Zukunft Blutproben von Patientinnen und Patienten untersucht werden. Anfang November soll alles bereit sein, damit Acetos Forschungsgruppe einziehen kann.
Einen ersten Hinweis auf einen möglichen Wirkstoff gegen die Tumorzell-Cluster haben die Forschenden übrigens bereits gefunden. Sie analysierten über 2400 zugelassene Wirkstoffe darauf, ob sie auch eine Wirkung auf die Tumor-Zellcluster haben. Und siehe da: Eine bestimmte Art von Molekülen, die heute Menschen mit Herzrhythmusstörungen helfen, sogenannte Na+/K+-ATPase-Inhibitoren, trennen die Cluster in einzelne Zellen auf – und entschärfen sie damit vermutlich. Zurzeit läuft eine erste klinische Studie mit Brustkrebspatientinnen.
Zudem durchlaufe eine «supercoole» neue Publikation aus seinem Team gerade den Begutachtungsprozess, erzählt Aceto. Näheres will er noch nicht verraten. Aber man ahnt bereits, dass er sich darin erneut gegen eine etablierte Meinung stellt. Keine Frage: Nicola Aceto ist auch in Zukunft so manche Überraschung zuzutrauen.