Embryonalentwicklung in Zeitlupe
Alle kennen das Reh, in vielen Kreuzworträtseln wird nach ihm gefragt, man trifft es auf der Joggingrunde oder bei einem Spaziergang im Wald an – ein filigranes Tier, mit seinen grossen schwarzen Augen geradezu elegant.
So gewöhnlich das Reh in unseren Wäldern erscheinen mag: Es weist eine Besonderheit auf, die unter Geweihträgern einmalig ist. Nach der Paarung und Befruchtung des Eis im Hochsommer nistet sich der stecknadelkopfgrosse Embryo nicht in der Gebärmutter (Uterus) ein, sondern legt eine Keimruhe, embryonale Diapause genannt, ein. Diese hält über vier Monate bis Dezember an. Erst danach setzt der Embryo seine Entwicklung in normaler Geschwindigkeit fort und nistet sich in der Gebärmutter ein. Im Mai bringt die Ricke nach viereinhalb Monaten «echter» Tragzeit ein bis drei Kitze zur Welt.
Bekannt ist das Phänomen seit mehr als 150 Jahren. Doch der Forschung gibt dieser ungewöhnliche Vorgang nach wie vor Rätsel auf. Über 130 Säugetierarten mit unterschiedlich ausgeprägter Diapause sind bekannt. Selten dauern sie indes so lange wie beim Reh. Bei fast keiner anderen Art tritt statt dem vollständigen Anhalten eine so ausgeprägte, anhaltende Verlangsamung ein. Bei Mäusen können Wissenschaftler die Diapause künstlich auslösen. Nach wie vor ist aber unklar, welche natürlichen Faktoren beim Reh die Keimruhe steuern und den Embryo dabei am Leben erhalten.
Mit dem Rätsel der Reh-Diapause befasst sich auch die Forschungsgruppe von Susanne Ulbrich, Professorin für Tierphysiologie der ETH Zürich, seit längerem. In einer neuen Studie zeigen die Forschenden auf, welche molekularen Vorgänge im Embryo während seiner Keimruhe ablaufen: Die embryonalen Zellen teilen sich während der Diapause weiterhin, wenn auch sehr langsam. Die Zahl der Zellen, auch der embryonalen Stammzellen, verdoppelt sich dabei nur alle zwei bis drei Wochen. Die Studie erschien soeben in der Fachzeitschrift PNAS. Daran beteiligt sind nebst der ETH-Gruppe auch Forschende der Universitäten Zürich und Bern sowie deutscher und französischer Forschungseinrichtungen.
Gen-Transkripte und Signalmoleküle untersucht
Um die Frage zu klären, was die Zellen des Embryos an der normalen Teilungsgeschwindigkeit hindert, untersuchten die Forschenden zum einen die molekulare Zusammensetzung der Uterusflüssigkeit. Zum anderen nahmen sie das Transkriptom, also die Gesamtheit aller Boten-RNA-Moleküle, der Embryonen und der Schleimhautzellen aus dem Uterus genauer unter die Lupe.
In der Uterusflüssigkeit fanden die Forschenden tatsächlich Signalstoffe, welche die Teilungsgeschwindigkeit regulieren könnten. Besonders auffällig war die Aminosäure Serin. Die ETH-Forschenden zeigten auf, dass sich gegen Ende der Diapause die Konzentration bestimmter Aminosäuren in der Uterusflüssigkeit ändert. Daraufhin setzt die Rate der Zellteilung mit normaler Geschwindigkeit ein.
Mit im Spiel ist dabei der Molekülkomplex mTOR, der auf die Aminosäuren reagiert. Dieser Proteinkomplex spielt bei vielen anderen Signalwegen in Säugetierzellen bei der Regulation des zellulären Stoffwechsels eine entscheidende Rolle, unter anderem auch im Zusammenhang mit Krebserkrankungen. mTORC1 reguliert zum Beispiel die Proteinsynthese und somit das Zellwachstum und die Zellteilung.
Laut den neuen Erkenntnissen ist nur die Aktivität des Molekülkomplexes mTORC1 (aber nicht mTORC2) in den Embryonen des Rehs während der gesamten Diapause unterdrückt. Dies im Unterschied zur Diapause der Maus, bei der die Zellteilung vollständig durch die Hemmung beider mTORC-Komplexe angehalten wird.
Wenn gegen ihr Ende hin der Aminosäuren-Pegel in der Uterusflüssigkeit deutlich ansteigt, aktiviert dies mTORC1. Dies wiederum setzt Stoffwechsel- und Zellzyklus-Gene in Gang. Die Embryonalentwicklung wird angetrieben. Die Forschenden vermuten zudem, dass im Gegenzug mTORC2 während der Diapause von Rehembryonen nicht gehemmt wird, wodurch die langsame kontinuierliche Zellteilung aufrechterhalten bleiben könnte.
Ob nebst den diversen Aminosäuren weitere Signalmoleküle involviert sind, haben die Forschenden in dieser Studie nicht untersucht. Ebenfalls bleibt unklar, ob die Aminosäuren tatsächlich für die Fortsetzung der Embryoreifung verantwortlich sind oder ob auch der Embryo Moleküle absondert, die auf mütterliche Zellen und Signalwege einwirken. Es könnte sein, dass der Embryo seine Präsenz mit speziellen Signalmolekülen dem Mutterorganismus anzeigt. Diese Wissenslücke möchte Ulbrich in künftigen Studien schliessen.
Neues Licht auf Fortpflanzungsbiologie
Die neuen Erkenntnisse werfen ein Licht auf die Reproduktions- und Entwicklungsbiologie im Allgemeinen. Eine der grundlegenden Fragen ist, wie es bei Säugetieren zu einer Schwangerschaft respektive Trächtigkeit kommt. So können sich beispielsweise bei Mensch und Rind Embryonen oft nicht in der Gebärmutter einnisten und sterben. «Dies hat mit vielschichtigen Wechselwirkungen zwischen Embryo und Mutter zu tun», sagt Ulbrich.
Für eine erfolgreiche Schwangerschaft bedürfe es einer engen zeitlichen Abstimmung. Der Embryo müsse sich zum richtigen Zeitpunkt durch entsprechende (molekulare) Signale bemerkbar machen und den Zyklus der Mutter unterbrechen. «Diese Interaktion zwischen Embryo und Mutter wollen wir besser verstehen», erklärt die ETH-Professorin. Dafür sei das Reh als Modell ideal. Dessen Embryonalentwicklung sei derjenigen des Rindes sehr ähnlich, laufe aber in Zeitlupe ab. «Dadurch können wir die einzelnen Schritte besser zeitlich auflösen und ursächliche Zusammenhänge finden.»
Die Erkenntnisse könnten auch dazu beitragen, die in-vitro-Fertilisation beim Menschen so zu verbessern, dass Embryonen nicht mehr eingefroren werden müssten. Zudem könnte mit natürlichen Faktoren die Geschwindigkeit der Teilung von Zellen, einschliesslich embryonaler Stammzellen, gesteuert werden.