Biochemische Marker zur Vorhersage, wie chemische Verschmutzung die Biodiversität gefährdet

Jedes Jahr gelangen Zehntausende von Chemikalien auf den Markt und letztlich in die Umwelt. Während die meisten dieser Verbindungen vor der Zulassung auf ihre Sicherheit getestet werden, bleiben ihre langfristigen Auswirkungen auf die Tierwelt schwer vorherzusagen. Um die potenzielle Bedrohung für Ökosysteme besser einschätzen zu können, haben Forschende der Eawag biochemische Marker untersucht, die den Grad der chemischen Belastung von Fischen anzeigen.
Barben (Barbus barbus) und Döbel (Squalius cephalus) wurden in der Studie als repräsentative Arten für Fischgemeinschaften in Schweizer Flüssen untersucht (Foto: M. Franco, Eawag).

Weltweit sind Schätzungen zufolge zwischen 40’000 und 60’000 chemische Substanzen im regulären Umlauf. Während die Industrie weiter expandiert, gelangen jedes Jahr enorme Mengen an Arzneimitteln, Reinigungsmitteln, Pestiziden und anderen Verbindungen in Ökosysteme. Das betrifft auch die Schweiz, eines der fünf führenden Exportländer von Chemikalien. Die Umweltwirkung einer Substanz vor dessen Marktzulassung bewerten zu können, ist entscheidend. Bislang war es jedoch schwierig, die langfristigen Auswirkungen chemischer Verschmutzung auf die Umwelt vorherzusagen, insbesondere welche Tier- und Pflanzenarten am meisten von der jeweiligen Chemikalie gefährdet sind.

In einer kürzlich in Environmental International veröffentlichten Studie haben Eawag-Forscher nun einen neuen Ansatz verfolgt, um solche Vorhersagen zu verbessern. Sie haben untersucht, wie verschiedene Fischarten Chemikalien auf natürliche Weise abbauen und ausscheiden – eine Fähigkeit, die darauf hinweisen könnte, welche Arten in verschmutzten Umgebungen am ehesten überleben können.  

Biotransformation trifft Biodiversität

„Wir haben die Biotransformation untersucht – einen Prozess, den Organismen nutzen, um Chemikalien in Produkte umzuwandeln, die sie ausscheiden können“, erklärt Marco Franco, Umwelttoxikologe und Erstautor der Studie. In Zusammenarbeit mit Kolleginnen aus den Bereichen Fischökologie und Umweltchemie der Eawag hat er sich auf Wasser-Ökosysteme konzentriert, die häufig zu Reservoirs für Umweltgifte werden. Das Team untersuchte fünf Fischarten aus verschiedenen Regionen im Verlauf der Aare. „Anstatt herkömmliche Naturschutz-Forschungsmethoden zu verwenden, haben wir untersucht, ob zelluläre Mechanismen, die diese Arten gemeinsam haben, Aufschluss geben, welche empfindlicher gegenüber Verschmutzung sind“, erklärt Franco den unkonventionellen Ansatz der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Alle fünf Fischarten, die als typische Vertreter der regionalen Wasser-Lebensgemeinschaften ausgewählt wurden, besitzen dieselbe molekulare Ausrüstung zum Chemikalienabbau. Doch die Forschenden entdeckten erhebliche Unterschiede darin, wie effizient die Arten diese nutzen. Zu ihrer anfänglichen Überraschung fanden sie die höchste Aktivität beim Sonnenbarsch (Lepomis gibbosus), ein invasiver Fisch in Schweizer Flüssen. Dies zeichnet ihn als widerstandsfähigsten der analysierten FIsche aus. „Das war unerwartet, aber es macht Sinn“, sagt Franco. „Invasive Arten müssen in einem unbekannten und bereits besiedelten Lebensraum überleben. Eine bessere Fähigkeit, mit potenziell giftigen Verbindungen umzugehen, verschafft ihnen einen Vorteil.“

Chemikalien gefährden besonders Arten mit geringer Biotransformationskapazität

Die Umwelforschenden entdeckten noch auffälligere Unterschiede, je nachdem, aus welchen Regionen die Fische stammten. Exemplare aus landwirtschaftlich strak genutzten Zonen oder solchen mit Industrien, die generell mehr verschmutzt sind, zeigten zwei bis elf Mal mehr chemische Abbauaktivität als solche aus weniger belasteten Gebieten.

„Das deutet darauf hin, dass Schadstoffbelastung die Biotransformationsaktivität der Tiere erhöhen kann. Es bedeutet auch, dass diejenigen mit einer natürlich niedrigen Aktivität stärkerem Stress ausgesetzt sind, weil sich Chemikalien stärker ansammeln und die Tiere mehr Energie aufwenden müssen, um sie zu verarbeiten. Das macht sie anfälliger für andere Bedrohungen“, erklärt Franco. In Ökosystemen, die aus vielen verschiedenen Arten bestehen, sind solche sensiblen Populationen einem höheren Risiko des Bestandsrückgangs ausgesetzt. Sie frühzeitig zu erkennen hilft, massgeschneiderte Schutzstrategien zu entwickeln.

Folgen für die Marktzulassung von Chemikalien

Über den Naturschutz hinaus eröffnen die Studienergebnisse auch Möglichkeiten, um die Risikobewertung neuer Chemikalien im Zulassungsprozess zu verbessern. Aktuell stützen sich Sicherheitsüberlegungen stark auf Daten von Labortieren, den „Modelltierarten“. Doch diese widerspiegeln nicht unbedingt die Sensitivität von Wildtieren. „Die Schlüsselfrage ist, ob die Tiere und Pflanzen, die wir schützen wollen, tatsächlich mehr oder weniger empfindlich gegenüber einer bestimmten Chemikalie sind als solche Modellarten“, betont Franco.

Der von ihm verwendete Ansatz bietet eine vielversprechende Lösung. „Unsere Vorgehensweise verknüpft biochemische Daten mit ökosystemweiten Vorhersagen. Das bedeutet, dass wir durch die Messung der Biotransformationsaktivität einer Wildart und den Vergleich mit den Modelldaten bestimmen können, ob eine Chemikalie für Tiere in ihrer natürlichen Umgebung tatsächlich mehr oder weniger schädlich ist.“ Dies ermöglicht es, reale ökologische Informationen in regulatorische Entscheidungen einzubeziehen.

Tierversuche in der Umweltforschung reduzieren

Die Methode, die der Studie zugrunde liegt, verringert auch die Notwendigkeit von Tierversuchen in der Umweltforschung. Anstatt gross angelegter Studien, die viele Tiere über einen längeren Zeitraum hinweg beobachten, verwendet der biochemische Ansatz Daten von wenigen Individuen, um die Sensibilität von Arten gegenüber chemischer Verschmutzung zu bewerten. Das ist möglich, weil die Analysen sich auf zelluläre Marker stützen, bei denen Forschende aus kleinen Stichproben aussagekräftige Daten erhalten können, anstatt auf grosse Populationsstudien angewiesen zu sein.

Dennoch betonen die Wissenschaftler, dass eine Überprüfung in der Natur unerlässlich ist. „Letztlich müssen wir Ökosysteme über längere Zeit hinweg beobachten, um unsere Vorhersagen zu bestätigen und zu sehen, wie sich die Populationsdynamik der Arten in einem bestimmten Lebensraum entwickelt“, schliesst Franco. Dennoch ist sein Team zuversichtlich, dass ihr Ansatz in verschiedensten geografischen Gebieten angewendet werden kann, um chemische Bedrohungen für die Biodiversität besser zu bewerten.  

Biotransformation – eine zelluläre Maschinerie zum Chemikalienabbau

Biotransformation ist ein Prozess, bei dem lebende Organismen wie Fische potenziell schädliche Substanzen in Produkte umwandeln, die aus dem Körper ausgeschieden werden können. Dies geschieht hauptsächlich in Zellen der Leber, der Kiemen und des Magen-Darm-Trakts und umfasst eine Reihe biochemischer Reaktionen. In „Phase-I“-Reaktionen verändern spezialisierte Moleküle, sogenannte Enzyme, die Chemikalie, indem sie reaktive Gruppen hinzufügen, die diese wasserlöslicher machen. So kann die Substanz leichter vom Körper gehandhabt werden. In „Phase-II“-Reaktionen werden dann grössere Moleküle an die Verbindung angehängt, um sie für die Ausscheidung vorzubereiten. Dieser Prozess ist ein wichtiger Bestandteil des „chemischen Abwehrsystems“ eines Organismus – ein Set biologischer Mechanismen, um schädliche Substanzen zu erkennen, zu neutralisieren und auszuscheiden, und so den Organismus vor Vergiftungen zu schützen.