Zwischen Kristallen, Katzen und Quanten

Die ETH-Professorin Yiwen Chu untersucht, wie sich Quantenzustände auf immer grössere Objekte übertragen lassen. Das soll helfen, neue physikalische Erkenntnisse zu gewinnen und effizientere Technologien zu entwickeln. Für ihre herausragende Forschung erhält sie den Latsis-Preis der ETH Zürich.
Yiwen Chu im Wald (Bild: Daniel Winkler / ETH Zürich)

Das, was sie täglich mache, sei Laien schwierig zu vermitteln, sagt Yiwen Chu. Denn im Alltag sehen wir nichts, was sich quantenmechanisch verhält.

Die ETH-Professorin experimentiert mit hybriden Quantensystemen. Dabei kombiniert sie verschiedene Arten von Quantenobjekten miteinander und versucht Quanteninformation zwischen Mikrowellenschaltungen, Schall, Licht und dem Eigendrehimpuls von Elektronen, sogenannten Spins, zu übertragen. Wenn diese unterschiedlichen Quantensysteme miteinander interagieren, entstehen interessante physikalische Phänomene und eines Tages, so hofft Chu, leistungsfähigere Technologien. «Wir nutzen unser bisheriges Verständnis der Quantenmechanik, um neue Technologien zu entwickeln, die uns im Alltag nützlich sein könnten.»

An verschiedenen Orten gleichzeitig

Viele der Technologien, die wir bereits heute täglich verwenden, basieren auf der Quantenwissenschaft, zum Beispiel Computerchips, Laser oder die Magnetresonanztomographie (MRI oder MRT). In der winzigen Welt der Quantenmechanik gelten andere Regeln als in derjenigen Welt, die fürs menschliche Auge sichtbar ist. Zum Beispiel können Teilchen zur selben Zeit an mehreren Orten sein oder sich in einer Quantenüberlagerung befinden – also gleichzeitig in mehreren Zuständen sein –, bis man sie misst.

Während Forschende die verschiedenen Quantenzustände im mikroskopischen Bereich schon längst sichtbar machen können und damit arbeiten, ist dies bei Alltagsgegenständen bisher nicht möglich. «Wir arbeiten daran, neue Systeme zu entwickeln, um quantenmechanische Phänomene wie Überlagerungen auch bei grösseren Objekten nachzuweisen», sagt Chu.

Spezifische Forschung für grundlegende Fragen

Die Quantenforschung, die im nächsten Jahr den 100. Geburtstag feiert, erlebte besonders in den letzten Jahren weltweit einen Wachstumsschub - nicht zuletzt wegen des Wettlaufs um leistungsfähige Supercomputer, die auf den Gesetzen der Quantenmechanik beruhen.

Die «Hybrid Quantum Systems Group», die Chu 2019 an der ETH Zürich gründete, forscht aber nach wie vor in einem hochspezialisierten Bereichs. «Für die Experimente in unserem Labor verwenden wir unübliche Materialien, besondere physische Objekte und aussergewöhnliche Techniken. Es gibt weltweit nur ganz wenige Gruppen, die mit etwas Ähnlichem arbeiten», sagt Chu.

«Wir möchten sowohl neue Technologien entwickeln als auch das grundlegende Verständnis von Quantenphysik vorantreiben.»      Yiwen Chu

In der Quantenforschung sei vieles noch unbekannt, sagt die Professorin für Festkörperphysik. Zum Beispiel, ob sich die Quantenmechanik auch auf Alltagsgegenstände anwenden lässt oder nicht. Wir gehen davon aus, dass Schrödingers berühmtes Gedankenexperiment in der realen Welt nicht möglich ist, weil natürlich niemand je eine Katze tot und gleichzeitig lebendig gesehen habe, sagt Chu. «Aber die Antwort auf die Frage, ob eine Katze in einer Überlagerung sein kann, kennt bisher niemand mit Bestimmtheit», sagt die Quantenphysikerin und lacht.

Ein weiteres Rätsel sei, wie die Quantenmechanik mit anderen Kräften, zum Beispiel der Schwerkraft, interagiere. «Dies sind zwei der grössten Fragen in der Physik, auf die wir derzeit noch keine schlüssigen Antworten haben. Unsere Forschung versucht, darauf Antworten zu finden.»

Schrödingers Katze

Das Rätsel um die verschiedenen Zustände, die ein Objekt gleichzeitig haben kann, beschäftigte den österreichischen Physiker Erwin Schrödinger bereits 1935. Um diesen Widerspruch in die reale Welt zu übersetzen, behalf er sich mit einem Gedankenexperiment: Eine Katze befindet sich in einer Kiste mit einer giftigen Substanz, die durch einen zufälligen quantenmechanischen Vorgang freigesetzt wird. Solange die Kiste geschlossen ist, wissen wir nicht, ob die Katze lebt oder tot ist – sie ist in einem Überlagerungszustand, also gleichzeitig lebendig und tot, bis wir nachsehen.

Schrödingers Katze im Labor hergestellt

Yiwen Chu und ihrem Team gelang es im vergangenen Jahr zum ersten Mal, eine besonders schwere Schrödinger-Katze herzustellen: mit einem schwingenden Kristall, der die Katze darstellt, einem supraleitenden Schaltkreis, der die Rolle des ursprünglichen Atoms übernimmt, und einer Schicht aus piezoelektrischem Material, das ein elektrisches Feld erzeugt, wenn der Kristall während der Schwingungen seine Form ändert. Den Forschenden gelang es, dass der Kristall gleichzeitig in zwei Richtungen schwingt – zum Beispiel hoch/runter und runter/hoch. Diese beiden Richtungen stehen für die Zustände «lebendig» oder «tot» der Katze.

Diese Erkenntnisse könnten dazu dienen, Quantentechnologien leistungsfähiger zu machen. So könnte etwa in Qubits gespeicherte Quanteninformation robuster gemacht werden, indem man anstelle der bislang verwendeten einzelnen Atome oder Ionen Katzen-Zustände benutzt, die aus einer riesigen Zahl an Atomen in einem Kristall bestehen.

Vibrierende Kristalle

Chus Gruppe arbeitet daran, die Masse dieser Kristall-Katzen nun weiter zu erhöhen. Dies erlaube ihnen, die Gründe für das Verschwinden von Quanteneffekten in der makroskopischen Welt echter Katzen besser zu verstehen, sagt die experimentelle Quantenphysikerin.

Die zurzeit grösstmöglichen Objekte, die sich quantenmechanisch verhalten, sind Kristalle von einem halben Millimeter Grösse. Noch nie konnten in grösseren Objekten Quantenüberlagerungen nachgewiesen werden.

Quantenphänomene zu beobachten, ist grundsätzlich schwierig, weil Quantenzustände sehr fragil sind. Je grösser ein Objekt, desto komplexer wird es, sicherzustellen, dass alle Komponenten ihre Quanteneigenschaft beibehalten. Wenn auch nur ein Quäntchen Energie aus dem System entweicht, kann das den Quantenzustand zerstören.

Kristalle eignen sich für die Experimente deshalb so gut, weil sie Energie sehr lange speichern können. Deshalb werden Quarzkristalle auch seit je her in Uhren verwendet. «Wir nutzen diese Schwingungen im Kristall, weil sie die Energie und die Quantenzustände, also die Quanteninformation, sehr lange halten können, was uns Zeit gibt, tatsächlich etwas damit zu tun», sagt Chu.

Ihre Leidenschaft für hybride Quantenmechanik ist zu spüren – und wirkt ansteckend. Die 38-Jährige ist kaum zu stoppen, wenn es um ihr Fachgebiet geht. Für Quantenphysik begeisterte sie sich schon während des Studiums: «Mir gefiel die praktische Arbeit im Labor. Aber auch die Konzepte der Quantenphysik faszinierten mich.»

Der Moment, in dem es Klick machte

Ihre ersten Lebensjahre verbrachte Chu in Chinas Hauptstadt Peking. Mit acht Jahren zog sie mit ihren Eltern nach Pittsburgh (USA), wo sie aufwuchs. Während ihres Doktorats in Harvard 2014 erforschte sie, wie sich Diamanten in Quantenoptik-Systemen verhalten. Als Postdoktorandin in Yale begann Chu, sich mit der Mechanik in Kristallen und hybriden Quantensystemen zu beschäftigen – aber eigentlich eher per Zufall. «Ich unterhielt mich in einer Pause mit Forschenden einer anderen Gruppe, deren Labor sich zufällig im selben Flur befand wie unser Quantenoptiklabor. Ich war fasziniert und hatte die Idee, das, woran ich damals arbeitete, mit ihren Forschungsfeldern nichtlineare Optik und Optomechanik zu kombinieren.»

«Vieles in meinem Forschungsgebiet ist noch unentdeckt, und viele Fragen sind offen – das gefällt mir und motiviert mich.»      Yiwen Chu

Die Wissenschaftlerin begab sich damit auf unbekanntes Terrain. «Für dieses neuartige System mussten Objekte zusammengestellt werden, mit denen ich nicht vertraut war, und ich wusste nicht, ob es am Ende funktioniert. Ich erinnere mich, wie ich im Labor sass und Messungen durchführte. Und wie die Daten mir bestätigten, dass das Gerät so funktionierte, wie ich es auf dem Papier entworfen hatte», sagt Chu. Das sei sehr aufregend gewesen. Die Laboraufzeichnungen mit der Notiz «Ja, es funktioniert!» habe sie immer noch.

Sie habe damals gedacht, das sei etwas Interessantes und Neues, an dem sie ein paar Jahre lang arbeiten könne. «Ich hatte ja keine Ahnung, wie weit ich damit kommen würde. Und jetzt hat sich daraus dieses ganze Forschungsprogramm entwickelt», sagt sie und wirkt dabei immer noch erstaunt.

«Erwartungen übertroffen»

An die ETH Zürich zu kommen sei ein einfacher Entscheid gewesen, sagt die Quantenforscherin. «Viele arbeiten hier in ähnlichen Bereichen, und wir können voneinander profitieren.» Wichtig sei aber auch die Gründung des Quantum Centers der ETH 2021 gewesen. «Dieses Forschungszentrum bringt die Gemeinschaft näher zusammen», sagt Chu.

Ihr Kolleg:innen schätzen die Zusammenarbeit mit ihr. «Yiwen hatte bereits eine glänzende Karriere, bevor sie 2019 zu uns kam», sagt Atac Imamoglu, Professor am Institut für Quantenelektronik. Die Erwartungen an sie seien entsprechend hoch gewesen. «Ihre Leistungen an der ETH, die Arbeit in einem sehr kompetitiven Umfeld und die Einschränkungen durch die Pandemie während des Aufbaus ihres Labors haben mich und meine Kollegen jedoch umgehauen. Wir freuen uns sehr, dass sie in unserer Abteilung arbeitet.» Imamoglu war es denn auch, der seine Kollegin für den Latsis-Preis nominierte.

«Anerkennung für ganzes Team»

Die junge Professorin erhielt 2021 den Sackler-Preis in Physik. Nun kommt am 16. November der Latsis-Preis der ETH Zürich hinzu. Chu erhält den mit 25'000 Schweizer Franken dotierten Preis für «ihre herausragenden Leistungen auf dem Gebiet der hybriden Quantensysteme», wie es in der Laudatio heisst.

Sie fühle sich sehr geehrt, sagt Chu. Es sei schön zu wissen, dass ihr Fachgebiet auf Interesse stösst, vielleicht sogar bei einem breiteren Publikum. Die Auszeichnung gebühre aber dem ganzen Team, fügt sie an. «Ich bin zwar diejenige, die den Preis gewinnt, aber die Arbeit wurde von so vielen Menschen in meiner Gruppe geleistet. Der Preis ist eine Anerkennung für die Arbeit aller.»

Ein Schritt aus der Komfortzone

Mittlerweile hat sich die Quantenphysikerin einer neuen Herausforderung gestellt: Sie ist im Sommer Mutter geworden. «Es ist schön, etwas ganz anderes zu wagen», sagt Chu. In ihrem Forschungsalltag laufe vieles in einem eingespielten Rhythmus ab. Die Geburt ihres Sohnes bringe sie und ihren Partner, der auch Physiker ist, nun wieder aus ihrer Komfortzone. «Ein Kind grosszuziehen, liegt ausserhalb unserer Kontrolle. Das belebt und ermutigt mich dazu, neue Dinge auszuprobieren und Risiken einzugehen.»

Das wirke sich auch in ihren Arbeitsalltag aus, sagt die Professorin, die soeben aus dem Mutterschaftsurlaub an die ETH zurückgekehrt ist. «Ich spüre viel Elan und Freude, was meine berufliche Tätigkeit angeht.»

Latsis-Preis der ETH Zürich und ETH-Tag

Mit dem von der «Fondation Latsis Internationale» gestifteten Preis zeichnet die ETH Zürich jährlich über alle Forschungsdisziplinen hinweg herausragende jüngere Forscherinnen und Forscher aus. Er wird am ETH-Tag am 16. November 2024 von ETH-Rektor Günther Dissertori verliehen und ist mit 25‘000 Franken dotiert.