Aussagekräftige Hinterlassenschaften
Archäologinnen und Archäologen lieben Müllhalden. Es sind die reinsten Fundgruben: Scherben, Knochen, Essensreste. Sie alle geben Einblicke in ganz verschiedene Alltagsbereiche der Gesellschaft. Mit dem Abwasser ist das ähnlich. Christoph Ort und Tim Julian sind insofern ein wenig wie Archäologen des Jetzt, die in den Hinterlassenschaften der Menschen forschen, um mehr darüber zu erfahren, wie es ihnen gerade geht.
Gesundheitsdaten im Abwasser
Angefangen hat es mit der Detektion von Drogenrückständen im Abwasser. Ort konnte aufzeigen, dass Abwasseranalysen eine effiziente Ergänzung zu nationalen Drogenmonitoringprogrammen sein können. Richtig Fahrt aufgenommen hat die Methode während der Corona-Pandemie, denn die Spurensuche im Abwasser funktioniert auch für Virenerbgut. Auch dieses wird, wie Drogenrückstände, auf der Toilette ausgeschieden und landet über kurz oder lang in der Kläranlage. «Abwasser ist ungemein wertvoll», sagt Julian, der vor zehn Jahren die Eawag-Forschungsgruppe «Krankheitserreger und menschliche Gesundheit» lanciert hat, «es birgt eine ganze Menge an Gesundheitsdaten». Wahre Schätze an Informationen warten darauf, seriös ausgewertet zu werden.
Anhaltende Bedeutung von Abwasseranalysen nach der Pandemie
Das vom Bundesamt für Gesundheit unterstützte Corona-Projekt bleibt aktuell, denn auch wenn das Thema «Corona» aus der öffentlichen Wahrnehmung so gut wie verschwunden scheint, für die Kläranlagen ist es nach wie vor ein Thema.
«Die Schweiz ist eines der Länder, wo das Abwassermonitoring von Corona-Viren auch nach der Pandemie weitergezogen wird», sagt Umweltwissenschaftler Ort. Die Behörden haben die Nützlichkeit der Methoden erkannt. In der Peakphase der Pandemie wertete man das Abwasser von bis zu 100 Abwasserreinigungsanlagen aus. Heute stehen 14 Anlagen im Fokus. Die Anlagenbetreiber nehmen routinemässig und automatisch Wasserproben, wovon ein Teil nach Dübendorf geht, wo sich das Eawag-Labor um die Analysen kümmert. Das Monitoring umfasst inzwischen neben COVID-19 auch eine ganze Reihe weiterer Infektionskrankheiten, wie die Influenza, das RS-Virus und das gegen Antibiotika resistente MRSA-Bakterium.
Umweltüberwachung
Die Idee, Pathogene nicht nur im Spital, sondern überhaupt in der Umwelt zu suchen sei nicht ganz neu, sagt der Mikrobiologe Julian. Schon länger rede man diesbezüglich von «environmental surveillance», von Umweltüberwachung also. Bleibt natürlich die Frage, wo man in der Umwelt seine Sensoren am besten platziert? Seit über zehn Jahren mache man Versuche, eine abwasserbasierte Epidemiologie zu etablieren. Lange habe die Methodik ein «Mauerblümchendasein» gefristet, ergänzt Ort, aber nun scheint der Durchbruch gekommen, nun hat sie ihre Nützlichkeit endgültig bewiesen.
Funktion eines Frühwarnsystems
Das Virenmonitoring erlaubt es, eine zweite Datenquelle anzuzapfen, um die Virenlast zu verfolgen, unabhängig vom klinischen Umfeld. Und unabhängig auch von den aktuellen Testregimes, die grossen Einfluss auf die Datenlage aus den Spitälern, den Testzentren oder den Arztpraxen haben. Wo viel getestet wird, wird auch viel gefunden – und umgekehrt. Das Abwasser verhält sich «neutraler».
Die enge Zusammenarbeit mit Forschenden der ETH Zürich und der EPFL machte es möglich, nicht allein die Virenlast zu bestimmen, sondern auch die Entwicklung der Varianten zu verfolgen. Wenn man nun also einen Sensor am rechten Ort platziert hat: Wäre es sogar denkbar, eine Art Frühwarnsystem zu etablieren, sodass man im Abwasser Krankheitsverläufe erkennen kann, noch bevor sie im ärztlichen Alltag für Aufregung sorgen? «Theoretisch schon», sagt Julian, «es gäbe Techniken, um grosse Mengen von unbekannter DNA zu sequenzieren.» Doch für die praktische Umsetzung ist es noch ein wenig zu früh, die Verfahren sind noch zu aufwendig.
Neue Public-Health-Perspektiven
Was aber heute schon möglich ist: Verbindungen herzustellen von virologischen und pharmakologischen Analysen. Im Abwasser lassen sich nämlich nicht nur Viren und Drogen nachverfolgen, sondern auch Hustensirup oder Histaminhemmer, die mit Allergien zu tun haben. Das eröffnet ganz neue Public-Health-Perspektiven: Symptome in der Bevölkerung können so quasi in Echtzeit verfolgt werden und es lassen sich Korrelationen herstellen, die sonst womöglich unentdeckt geblieben wären. Das Interesse an solchen Einsichten wachse stetig, jedoch sei es wichtig, dass «umsichtig mit den gewonnenen Informationen umgegangen werde», meint Ort.