Verändertes Verständnis des Universums durch neue Messungen
Das Universum dehnt sich aus – aber wie schnell genau? Die Antwort scheint davon abzuhängen, ob man die kosmische Expansionsrate – die so genannte Hubble-Konstante oder H0 – anhand des Echos des Urknalls (des kosmischen Mikrowellenhintergrunds oder CMB) schätzt oder ob man H0 direkt anhand der heutigen Sterne und Galaxien misst. Dieses Problem, das als Hubble-Spannung bekannt ist, hat Astrophysikerinnen und Kosmologen auf der ganzen Welt vor ein Rätsel gestellt.
Eine Studie der Forschungsgruppe «Stellar Standard Candles and Distances» unter der Leitung von Richard Anderson vom Institut für Physik der EPFL fügt dem Puzzle ein neues Stück hinzu. Ihre in der Fachzeitschrift Astronomy & Astrophysics veröffentlichte Studie ist die bisher genaueste Kalibrierung von Cepheiden-Sternen – einer Art veränderlicher Sterne, deren Leuchtkraft über einen bestimmten Zeitraum schwankt – für Entfernungsmessungen auf der Grundlage von Daten, die von der Gaia-Mission der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) gesammelt wurden. Durch diese neue Kalibrierung wird die Hubble-Spannung weiter verstärkt.
Die Hubble-Konstante (H0) ist nach dem Astrophysiker benannt, der das Phänomen Ende der 1920er Jahre zusammen mit Georges Lemaître entdeckte. Sie wird in Kilometern pro Sekunde pro Megaparsec (km/s/Mpc) gemessen, wobei 1 Mpc etwa 3,26 Millionen Lichtjahre entspricht.
Die beste direkte Messung von H0 erfolgt über eine «kosmische Entfernungsleiter», deren erste Sprosse durch die absolute Kalibrierung der Helligkeit der Cepheiden festgelegt wird, die nun durch die EPFL-Studie neu kalibriert wurde. Die Cepheiden wiederum kalibrieren die nächste Sprosse der Leiter, auf der Supernovae – gewaltige Explosionen von Sternen am Ende ihres Lebens – die Ausdehnung des Weltraums selbst nachzeichnen. Auf dieser Entfernungsleiter, die vom Team Supernovae, H0, für die Zustandsgleichung der dunklen Energie (SH0ES) unter der Leitung von Adam Riess, Nobelpreisträger für Physik 2011, gemessen wurde, liegt H0 bei 73,0 ± 1,0 km/s/Mpc.
Die kosmische Entfernungsleiter. © NASA, ESA, A.Feild (STScI), and A.Riess (STScI/JHU)
Erste Strahlung nach dem Urknall
H0 kann auch durch die Interpretation des CMB bestimmt werden – der allgegenwärtigen Mikrowellenstrahlung, die vom Urknall vor mehr als 13 Milliarden Jahren übrig geblieben ist. Diese Messmethode für das «frühe Universum» setzt jedoch ein möglichst detailliertes physikalisches Verständnis der Entwicklung des Universums voraus und ist daher modellabhängig. Der Planck-Satellit der ESA hat die vollständigsten Daten über den CMB geliefert, und nach dieser Methode beträgt H0 67,4 ± 0,5 km/s/Mpc.
Die Hubble-Spannung bezieht sich auf diese Diskrepanz von 5,6 km/s/Mpc, je nachdem, ob die CMB-Methode (frühes Universum) oder die Entfernungsleiter-Methode (spätes Universum) verwendet wird. Unter der Voraussetzung, dass die mit beiden Methoden durchgeführten Messungen korrekt sind, bedeutet dies, dass etwas mit dem Verständnis der grundlegenden physikalischen Gesetze, die das Universum bestimmen, nicht stimmt. Diese wichtige Frage unterstreicht natürlich, wie wichtig es ist, dass die Methoden der Astrophysiker zuverlässig sind.
Die neue EPFL-Studie ist deshalb so wichtig, weil sie die erste Sprosse der Entfernungsleiter stärkt, indem sie die Kalibrierung der Cepheiden als Entfernungsmesser verbessert. Die neue Kalibrierung ermöglicht es uns, astronomische Entfernungen mit einer Genauigkeit von ± 0,9 % zu messen, was die Messung des späten Universums stark unterstützt. Darüber hinaus haben die an der EPFL in Zusammenarbeit mit dem SH0ES-Team erzielten Ergebnisse dazu beigetragen, die H0-Messung zu verfeinern, was zu einer verbesserten Präzision und einer höheren Aussagekraft der Hubble-Spannung führt.
«Unsere Studie bestätigt die Expansionsrate von 73 km/s/Mpc, aber, was noch wichtiger ist, sie liefert auch die bisher genauesten und zuverlässigsten Kalibrierungen von Cepheiden als Instrument zur Entfernungsmessung», sagt Anderson: «Wir haben eine Methode entwickelt, mit der wir nach Cepheiden suchen, die zu Sternhaufen gehören, die aus mehreren hundert Sternen bestehen, indem wir prüfen, ob sich die Sterne gemeinsam durch die Milchstrasse bewegen. Dank dieses Tricks konnten wir die besten Erkenntnisse aus den Parallaxenmessungen von Gaia nutzen und gleichzeitig von dem Präzisionsgewinn profitieren, den die vielen Sternhaufenmitglieder bieten. Dies hat es uns ermöglicht, die Genauigkeit der Gaia-Parallaxen bis an ihre Grenzen zu treiben und bietet die solideste Grundlage, auf der die Entfernungsleiter ruhen kann.»
Grundlegende Konzepte überdenken
Warum ist ein Unterschied von nur wenigen km/s/Mpc angesichts der riesigen Ausmasse des Universums von Bedeutung? «Diese Diskrepanz hat eine enorme Bedeutung», sagt Anderson: «Angenommen, Sie wollen einen Tunnel bauen, indem Sie in zwei gegenüberliegende Seiten eines Berges graben. Wenn Sie die Art des Gesteins richtig verstanden haben und Ihre Berechnungen korrekt sind, dann werden sich die beiden Löcher, die Sie graben, in der Mitte treffen. Wenn das nicht der Fall ist, haben Sie einen Fehler gemacht – entweder sind Ihre Berechnungen falsch oder Sie haben sich in der Art des Gesteins geirrt. So verhält es sich auch mit der Hubble-Konstante. Je mehr wir bestätigt bekommen, dass unsere Berechnungen korrekt sind, desto mehr können wir daraus schliessen, dass die Diskrepanz bedeutet, dass unser Verständnis des Universums falsch ist, dass das Universum nicht ganz so ist, wie wir dachten.»
Die Diskrepanz hat viele weitere Auswirkungen. Die Diskrepanz hat viele weitere Auswirkungen: Sie stellt die Grundlagen in Frage, etwa die genaue Natur der dunklen Energie, des Raum-Zeit-Kontinuums und der Schwerkraft: «Das bedeutet, dass wir die grundlegenden Konzepte überdenken müssen, die die Basis für unser gesamtes Verständnis der Physik bilden», sagt Anderson.
Die Studie seiner Forschungsgruppe leistet auch in anderen Bereichen einen wichtigen Beitrag: «Weil unsere Messungen so präzise sind, geben sie uns Einblick in die Geometrie der Milchstrasse», sagt Mauricio Cruz Reyes, Doktorand in Andersons Forschungsgruppe und Hauptautor der Studie: «Mit der von uns entwickelten hochpräzisen Kalibrierung können wir zum Beispiel die Grösse und Form der Milchstrasse als flache Scheibengalaxie und ihren Abstand zu anderen Galaxien besser bestimmen. Unsere Arbeit bestätigt auch die Zuverlässigkeit der Gaia-Daten, indem wir sie mit denen anderer Teleskope vergleichen.»