Ein Krieg um Grund und Boden

Der Krieg in der Ukraine ist auch ein Krieg um Boden. Sebastian Dötterl erklärt, warum der ukrainische Boden besonders wertvoll ist und warum dessen geopolitische Bedeutung sogar noch zunehmen wird.
In einem Schützengraben in der Ukraine zeigt sich deutlich die mächtige, fruchtbare Humusschicht dunkler Farbe. (Bild: Anatolii Stepanov / AFP via Getty Images)

Seit Februar 2022 leidet die ukrainische Bevölkerung unter dem russischen Angriffskrieg. Seither sind schon viele kluge Analysen gemacht worden, warum Russland ein imperialistisches Interesse an der Ukraine hat. Ich möchte den Blick aber auf einen Aspekt lenken, der mir bis jetzt noch zu kurz gekommen ist: Denn neben den ideologischen Kriegsgründen tobt in der Ukraine ein Krieg um einige der Schlüsselressourcen des 21. Jahrhunderts: Ackerland und Bodenschätze.

«Wir reden hier von Gebieten, die schon jetzt unglaublich wertvoll sind und noch wertvoller werden – das weiss auch Putin.»      Sebastian Dötterl

Der Boden der kontinentalen mittleren Breiten

Dass gerade der Süden und Osten der Ukraine reich an seltenen Erden, Erzen und anderen Metallen ist, und das Land über viel fruchtbare Ackerfläche verfügt, ist allgemein bekannt. Aber nur wenige kennen deren Verteilung innerhalb des Landes und den Grund dafür: So wie Erzvorkommen abhängig von der Geologie eines Landes sind, beruht die Fruchtbarkeit der ukrainischen Böden auf einer einzigartig dicken Humusschicht und dem sehr fruchtbaren Material, aus dem der Boden entsteht, so genannten Lössablagerungen. Diese fruchtbaren Böden – aufgrund ihrer Farbe «Schwarzerden» genannt – kommen auch in anderen Teilen der Welt vor, aber nirgendwo in Europa sind sie so dominant wie in der Süd- und Ostukraine und den angrenzenden russischen Gebieten – also genau die Gebiete, die Russland für sich beansprucht.

Zum Vergleich: Während die eigentliche humusreiche Schicht in Schweizer Böden oft weniger als 20 cm beträgt, ist diese im Ackerland der Ukraine oft mindestens 60 cm oder sogar mehr als ein Meter mächtig. Und das auf einem Gebiet, welches in etwa dem Sechsfachen der Schweizer Landesfläche entspricht. Wir alle können diese wertvolle Bodeneigenschaft sogar mit blossem Auge erkennen, wenn wir Bilder ukrainischer Schützengräben in der Ostukraine betrachten.

Ein Puffer gegen Klimafolgen

Was den ukrainischen Boden in Zukunft noch wertvoller macht: Nahezu jede ackerbauliche Bewirtschaftung führt in irgendeiner Form zu Bodendegradation, was sich negativ auf die Bodenfruchtbarkeit und die Erträge auswirkt. Viele europäische Böden sind dadurch bereits stark degradiert und anfälliger für Störungen wie beispielsweise den Klimawandel. Solche Schäden und Ertragseinbussen können die Schwarzerden der Ukraine noch viele Jahrzehnte erfolgreich kompensieren.

Gerade im Hinblick auf den Klimawandel gewinnt diese Tatsache noch an Brisanz. Die ukrainischen Gebiete dürften im Vergleich zu den Ländern West- und Mitteleuropas bei den derzeit gängigsten Klimaszenarien am wenigsten von den negativen Auswirkungen des Klimawandels betroffen sein. Während die europäische Landwirtschaft zunehmend unter Dürren und Wetterextremen  leidet, wird der ukrainische Boden dadurch noch wertvoller.  

Ein 12‘000-Milliarden-Schatz im Boden

Bereits im Herbst 2022 schätzte der kanadische ThinkTank SecDev den Wert der Bodenschätze in den von Russland derzeit besetzten Gebieten der Ukraine auf über 12 Billionen US-Dollar. Von den 30 durch die EU als strategisch besonders wertvoll eingestuften Rohstoffen lassen sich 22 in der Ukraine in grossen Mengen fördern. Darunter sind klassische Rohstoffe der Energie- und Stahlindustrie wie Kohle, Öl und Eisenerz, aber auch viele, die für die Energiewende unverzichtbar sind wie Lithium, Titan, Magnesium, Uran, Mangan, Zirkonium und viele andere. Aufgrund der geologischen Besonderheiten der Ukraine befinden sich viele der ergiebigsten Erzvorkommen wie beispielsweise das für die Elektromobilität essentielle Lithium vor allem in der Ost- und Südukraine. Das heisst konkret in aktuell umkämpften Kriegsgebieten oder in Gebieten, die von Russland als Territorium beansprucht werden.

Boden = Geopolitischer Einfluss

Bereits heute exportieren sowohl die Ukraine als auch Russland grosse Mengen an Nahrungsmitteln in die EU und andere Regionen der Welt. Der afrikanische Kontinent sowie der Nahe Osten profitieren stark von den Nahrungsmittelexporten aus der kleinen Region der Ostukraine und Westrusslands und ernähren damit eine wachsende Bevölkerung. Schon heute ist klar, dass die Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten in diesen Ländern, aber auch im mediterranen Europa, aufgrund der klimawandelbedingten Dürren, Hitzewellen und Niederschlagsverlagerungen steigen wird. Viele Regionen Afrikas werden heute noch durch die Ukraine mit Nahrungsmittel beliefert – welchen Einfluss würde Russland auf diesem Kontinent gewinnen, wenn sie diese Nahrungsmittellieferungen noch umfassender kontrollieren könnten? Es ist leicht sich auszumalen, wie die Nahrungsmittel-Abhängigkeit ganzer Weltregionen von Russland als geopolitisches Kapital genutzt werden wird.

Meine Schlussfolgerung

Ich schliesse daraus, dass aufgrund von möglicher Nahrungsmittelknappheit, einer wachsenden Bevölkerung und des Klimawandels sowie des Metallhungers europäischer Länder für Industrieprodukte und die Energiewende die geostrategische Bedeutung der Ostukraine in Zukunft noch zunehmen wird. Wer also langfristig die eigene strategische und geopolitische Unabhängigkeit wahren möchte, sollten meiner Meinung nach alles dafür einsetzen, dass diese Gebiete in der Hand eines verlässlichen internationalen Partners bleiben. Putin hat bewiesen, dass er nicht als solcher für Europa gelten kann.

Nach zwei Jahren sind viele Menschen kriegsmüde und mit Sorge sehe ich, dass sich die Stimmen in den Unterstützerstaaten der Ukraine mehren, die einen Frieden oder zumindest einen Waffenstillstand mit dem Aggressor Russland anstreben und dafür auch bereit wären, weite Gebiete an Russland abzutreten. Das wäre nicht nur für die Ukrainerinnen und Ukrainer ein grosser Verlust, sondern – und davon bin ich überzeugt – für uns alle, denn wir müssen uns bewusst sein: Weder Erzlagerstätten noch fruchtbare Böden und landwirtschaftliche Nutzflächen lassen sich beliebig verlagern oder wo anders wieder aufbauen. Wir reden hier von Gebieten, die schon jetzt unglaublich wertvoll sind und noch wertvoller werden – das weiss auch Putin. Wer die Kontrolle über diese Gebiete hat, hat meiner Meinung nach einen entscheidenden machtpolitischen Joker in der Hand, sowohl gegen Industrieländer als auch solche die nur schwache einheimische Nahrungsmittelproduktionen haben. Kann Europa es sich erlauben, diesen Joker an Putin abzugeben?

Weiter Informationen

Sebastian Dötterl ist Assistenzprofessor am Departement für Umweltsystemwissenschaften.

Referenzen

HAASE, D., FINK, J., HAASE, G., RUSKE, R., PÉCSI, M., RICHTER, H., ALTERMANN, M., JÄGER, K.-D. (2007): Loess in Europe – its spatial distribution based on a European Loess Map, scale 1:2,500,000. Quaternary Science Reviews, 16, 9–10, 1301–1312. Entnommen aus: Strouhalova, B., Gebhardt, A., Damien, E., Šefrna, L., Flašarová, K., Kolařík, P., & Schwartz, D. (2020). From chernozem to luvisol or from Luvisol to chernozem? A discussion about the relationships and limits of the two types of soils. A case study of the soil catena of Hrusov, Czechia. Geografie, 125(4), 473-500. DOI: 10.37040/geografie2020125040473, License: CC BY-NC-ND 4.0